Wols – der Ausnahmekünstler

In seiner Katalog-Einführung in die II. documenta geht Werner Haftmann kurz auf die Auswahlprinzipien ein. „Grundsätzlich sind jedem Künstler,“ so schreibt er, „drei Bilder zugedacht. Nur in den Fällen, in denen die Vielgestaltigkeit eines Werkes, die Breite der persönlichen Aussage oder auch heute ein besonderes reges Interesse an einer bestimmten Weise der Formulierung dazu aufforderte, haben wir den Beitrag einzelner Maler bis auf sechs Bilder ausgeweitet. Es ist also kein Urteil zur Qualität, wenn ein Maler mit nur drei Bildern vertreten ist und ein anderer mit mehr.“
Werner Haftmann wollte die documenta nicht zum Richter machen. Deshalb tat er alles, um den Eindruck zu vermeiden, der Umfang der Präsentation eines künstlerischen Werkes spiegle das Qualitätsurteil der Jury. Die Katalogredaktion, in der Arnold Bode und Eduard Trier zusammenarbeiteten, hatte offenbar diese Skrupel nicht. Sie schufen ein abgestuftes System der Wertschätzung. Da gab es Künstler wie Anna-Eva Bergman oder Theo Eble, die nur eine Katalogseite erhielten. In der Regel wurden den Künstlern zwei Seiten eingeräumt oder vier, wenn, wie von Haftmann erläutert, ihnen in der Ausstellung bis zu sechs Bilder zugestanden wurden.
Die Werke von Joan Miro, Ernst Wilhelm Nay, Ben Nicholson, Pablo Picasso und Fritz Winter wurden im Katalog gar auf sechs Bilderseiten präsentiert. Sie wurden damit deutlich aus der Masse der eingeladenen Künstler herausgehoben. Zudem waren Nay und Winter mit sieben Bildern in der Ausstellung vertreten und Miro mit sechs Kleinplastiken neben den sechs Gemälden.
Eine Sonderrolle wurde Picasso zugewiesen: Neben den sechs Seiten im Malerei-Katalog bekam er vier Fotoseiten im Skulpturen-Katalog für die Vorstellung seiner Skulpturengruppe „Les Baigneurs“. Eine Doppelseite war als einzige im gesamten Skulpturen-Katalog blau unterlegt und stach damit heraus. Damit war zum Star gemacht worden.
Kehrt man nach dieser Erfahrung zum Malerei-Katalog zurück, sieht man, dass es auch hier blau unterlegte Seiten gibt. Es handelt sich jeweils um die erste Seite (mit Kurzbiographie und Werkliste), die Willi Baumeister, Jackson Pollock, Nicolas de Stael und Wols (Alfred Otto Wolfgang Schulze) gewidmet ist. Aber nicht nur das: Alle vier Künstler sprengen in jeder Hinsicht den Rahmen: Baumeister ist in der Ausstellung mit 12 Gemälden vertreten, Pollock mit 16, de Stael mit 24 und Wols schließlich mit 17 Gemälden sowie 24 Aquarellen und Gouachen. Und allen Künstlern werden im Katalog acht Seiten eingeräumt, Wols sogar zehn. Ebenso überraschend wie die blau unterlegten Seiten findet man im alphabetisch geordneten Katalog zur Malerei nach 1945 Textseiten, in denen die vier Künstler jeweils gewürdigt werden.
Die Erklärung dafür steht in Haftmanns Einführung: „Einer menschlichen Pflicht wollten und mussten wir genügen. Im letzten Jahrzehnt sind einige Künstler gestorben, die mit unverwechselbarer Einmaligkeit und größter Wirkung die Kunst der Gegenwart mitbestimmt haben. Es sind das Willi Baumeister (gest. 1956), Jackson Pollock (gest. 1956), Nicolas de Stael (gest. 1955) und Wols (gest. 1951) […] Jedem von ihnen haben wir eine besondere Schau gewidmet.“
Es waren im Grunde innerhalb der großen Gruppenausstellung vier Einzelausstellungen. Durch die zehn Katalogseiten und Vielzahl seiner – oft kleinformatigen -Werke (41) wurde Wols, der 38jährig starb und nur eine kurze Zeit zur Entfaltung seiner Kunst hatte, zum absoluten Ausnahmekünstler.
In den ersten Konzeptpapieren, in denen Bode und seine Mitstreiter erste Überlegungen zur documenta anstellten, tauchte Wols noch nicht auf. In der ersten documenta (1955) war er dann aber mit vier Ölbildern vertreten. Von diesen vier Gemälden waren „Aubergine“ auch noch einmal 1959 und „Manhattan“ 1964 in der documenta zu sehen.
Einen dritten großen Auftritt hatte Wols‘ Werk 1964, als in der documenta III neun Ölgemälde und (in der Abteilung Handzeichnungen) fünf Zeichnungen zu sehen waren.

Kurioserweise setzte sich diese Hervorhebung von Wols in der II. documenta fort, als 1988 im Berliner Gropius-Bau unter dem Titel „Stationen der Moderne“ die 20 wichtigsten deutschen Ausstellungen des 20. Jahrhunderts ausschnittweise dokumentiert wurden. In der Schau, in der von der „Brücke“ über die „Entartete Kunst“ bis hin zur Fernsegalerie Gerry Schum alle Facetten der Kunstentwicklung zu sehen waren, wurde nicht die erste, sondern die zweite documenta von 1959 exemplarisch vorgestellt. Auf 37 Seiten wurden im Katalog Künstler und Werke vorgestellt, die an der II. documenta beteiligt waren. Als einziger erhielt Wols eine Doppelseite, auf der von ihm neun Aquarelle, Gouachen und Gemälde gezeigt wurden.

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