Eine neue Welt entsteht

Das planerische Arbeiten der Architekten hat sich durch die Entwicklung der Computerprogramme grundsätzlich verändert. Heute ist es möglich, Bauten, die erst noch entstehen sollen, auf dem Bildschirm drei dimensional zu simulieren, so dass man sie aus den unterschiedlichsten Perspektiven betrachten und sie sogar gedanklich durchlaufen kann. Die Erfahrungen mit dieser erlebbaren virtuellen Architektur können unmittelbar in die reale Welt des Bauens übertragen werden.

Langfristig könnte es aber auch sein, dass sich im digitalen Raum der Computer eine Architektur entwickelt, die nicht nur als Vorstufe für die gebaute Wirklichkeit gedacht ist, sondern deren Ziel es ist, Raumsysteme im Netz zu schaffen, die eine eigene begehbare Welt herstellen. Diese digital gebauten Räume, die sich nicht um statische Gesetze zu scheren brauchen, können Zugänge zu Informationsfeldern verknüpfen und ihnen dreidimensionale Gestalt geben. Aus der Arbeit mit ihnen könnten sich aber auch Modelle für die reale Welt ergeben.

Hani Rashid (1958 in Kairo geboren) und Lise Anne Couture (1959 in Montreal geboren) haben gemeinsam 1989 das Büro „Asymptote Architecture“ ge¬gründet, das sich vorrangig diesen Fragen widmet. Sie entwerfen zuweilen auch Konstruktio¬nen, die stofflich fassbar und be-gehbar sind. Hauptsächlich beschäftigen sie sich aber mit virtueller Architektur, das heißt mit utopisch wirkenden Gebäuden, die nur im Rechner und auf dem Bildschirm existieren. Das Team ist der Meinung, dass diese Ebe¬ne genauso wichtig sei wie das traditionelle Feld der Architektur.

Einer der für Asymptote wichtigsten Aufträge kam vom Guggenheim-Museum, das
mittlerweile neben seinem New Yorker Stammsitz über Filialen in Venedig, Bilbao, Berlin und Las Vegas verfügt. Das von Frank Lloyd Wright in NewYork erbaute spiralförmige Museum gilt als einer der wichtigsten Beiträge zur Architektur des 20. Jahrhunderts.

Pionierhaft will das Guggenheim-Museum ebenfalls beim Schritt in das 21. Jahrhundert sein: Asymptote wurde 2000 beauftragt, in einem Drei-Jahres-Projekt ein dreidimensionales Museum für das Internet zu konstruieren, durch das sich die Nutzer navigieren können und das einen gemeinsamen Zugang für die weltweit verstreuten Guggenheim¬Häuser bietet. Ziel ist es, das virtuelle Guggenheim-Museum zu einem Raum zu machen, in dem neue Formen der Kunst platziert und erprobt werden und in dem auch interaktive Prozesse ablaufen können. Für Asymptote ist dies das erste bedeutende virtuelle Gebäude des neuen Jahrhunderts.

Ein anderes Projekt wurde von Asymptote in Zusammenarbeit mit der NewYorker Börse angegangen: Es sollte ein ebenfalls dreidimensionaler virtueller Bau geschaffen werden, der dem Raum entspricht, in dem in der Börse die Geschäfte laufen und die Daten ausgetauscht werden. Dahinter stand der Wunsch, die Handelsaktionen, die in der Börse mit rasender Geschwindigkeit ablaufen und die bei aller Lebendigkeit der Personen und bei aller Fasslich¬keit des Raumes doch abstrakt und unüberschaubar bleiben, dingfest und anschaulich werden zu lassen. Der in Auftrag gegebene virtuelle Raum wäre also als eine dreidimensionale Grafik zu verstehen, deren einzelne Elemente dank der Übertragung in architektonische Visionen verständlich werden. Asymptote schuf für den Bildschirm eine Konstruktion, die dem Verlauf von wellenförmigen Bändern in einer Gebäudeschlucht ähnelt.

Die visionäre Architektur half also in diesem Fall, komplexe Abläufe räumlich zu ordnen. Daraus wird man für die reale Architektur kaum Modelle ableiten können. In anderen Fällen jedoch ist vorstellbar, dass sich am Computer entwickelte Bauformen, die an Raumschiffe und Schleifengebäude erinnern in die Wirklichkeit übertragen lassen. Aber diese Frage ist Asymptote eher nachrangig.
HNA 23. 3. 2002

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