Ständig anrührende Signale

Es ist, als würde man zur Seele des deutschen Bildungsbürgertums vordringen: Geführt durch eine sanfte Mittelgebirgslandschaft, die immer neue Ein- und Ausblicke eröffnet, gelangt man in tausendjährige Städte, die ständig anrührende Signale aussenden. Kaum ein Pflaster, über das Goethe nicht gegangen ist, kaum eine Orgel, die Johann Sebastian Bach nicht wenigstens eingespielt hat. Hier wandelte oder predigte Martin Luther, da malte Lucas Cranach der Ältere.
Die unerschöpflichen Kräfte des deutschen Protestantismus und der deutschen Aufklärung, die sich unter kleinstaatlichem Fürstenschutz entfalten konnten, bündeln sich symbolträchtig an einem Ort – in der Stadtkirche zu Weimar. In dieser gotischen Kirche erlebte Johann Wolfgang von Goethe den Aufklärer Johann Gottfried Herder als Pfarrer und Generalsuperintendenten, in dieser Kirche bewunderte der große Weimarer jenes von Lucas Cranach d. Ä. begonnene und wohl von seinem Sohn ausgeführte Altarbild, das den Maler Cranach und den Reformator Luther als Zeugen der Kreuzigung Christi zeigt.

Die Wurzeln der deutschen Geistesgeschichte. Doch wer zu ihnen vordringen will, hat es schwer. Es genügt nicht, sich einfach jener mittelalterlichen Handelsstraße anzuvertrauen, die als „Königsweg“ vom Rhein durch Thüringen nach Rußland führte und die in der Autobahn Eisenach-Gera ihre moderne Entsprechung gefunden hat. Die gebauten, erhaltenen und gesammelten Zeugnisse fürstlichen Prunks, bürgerlichen Stolzes und künstlerischer Größe sind reichhaltig und vielfältig. Aber um sie bestaunen zu können, muß man sich durch eine Glocke aus Dunst und Ruß vorarbeiten, muß durch endlose Quartiere des Verfalls und Viertel des trostlosen Wohnungsbaus hindurch. Man hat das Bild der weithin über das Land grüßenden Wartburg vor Augen, doch fast nachhaltiger prägen sich die brökkelnden Fassaden und die brutal die Vorstädte zerschneidenden Fernheizungsrohre ein.

Trotz aller Häßlichkeiten gelangt man immer wieder in Gassen und auf Plätze, die urplötzlich die verloren geglaubte Vergangenheit zurückzuholen scheinen, die dem Wort von der städtischen Geborgenheit Bedeutung geben. Es ist nicht unbedingt der mit seinen beiden Kirchen die Stadt überragende Domhügel in Erfurt; es sind auch nicht die bunt bemalten Portale der stolzen Renaissance-Bauten oder die leuchtenden Barockfassaden. Vielleicht ist es auch nicht die faszinierende Krämerbrücke in Erfurt, die beiderseits mit schmucken, kleinen Häuschen bebaut ist und schon bald im Touristenrummel ihren Charme verlieren könnte. Eher vermögen das die Treppen und Kopfsteinpflaster-Straßen, die am Lutherhaus vorbei in die Oberstadt von Eisenach führen; oder jene Erfurter Kirchgasse, die, kaum zwei Meter breit, eine Zeile spätmittelalterlicher Häuser von der Klostermauer trennt, hinter der Martin Luther als Mönch lebte; oder der Herderplatz rund um die Stadtkirche von Weimar. Da stimmen noch die Strukturen, herrschen die menschlichen Proportionen.

Die übermächtige Präsenz der Vergangenheit läßt bisweilen vergessen, dass auch die Moderne in diesem thüringischen Raum fruchtbaren Boden fand: Nur einige Dutzend Meter oberhalb von Goethes Gartenhaus strahlt weiß und konstruktiv klar das Wohnhaus, das Georg Muche hier erbaute. Ein unübersehbarer Verweis auf das Weimarer Bauhaus, das in Henry van de Veldes Jugendstilgebäuden von 1919 bis 1925 beheimatet war.

Aber auch im Stadtschloss, in dem die glanzvollen Kunstsammlungen vom fürstlichen Sammeleifer künden, lassen sich die Spuren der Moderne verfolgen: Als im Jahr 1860 in Weimar die Kunstschule in der Tradition der alten Akademien gegründet wurde, war der Boden bereitet für die Ausbil¬dung solcher Maler wie Christian Rohlfs, Paul Baum oder Max Beckmann. Als Erbe dieser Kunstschule blieb eine üppige Gemäldesammlung im Schloss.

Zur selben Zeit, als das Bauhaus in Weimar seinen Ruf begründete, war der von der Berliner Nationalgalerie berufene Walter Kaesbach Direktor am Angermuseum in Erfurt. Er profilierte das Haus als Kunstmuseum und engagierte sich stark für die zeitgenössische Kunst Doch nur das wenigste dieser hinzugekauften Moderne blieb erhalten: 765 Gemälde, Zeichnungen, Grafiken und Plastiken aus der Sammlung des Erfurter Museums wurden 1937 von den Nationalsozialisten in der Aktion „Entartete Kunst“ be¬schlagnahmt. Das Hauptwerk entging zum Glück sowohl der Verfolgungsjagd der Nazis als auch der Zerstörungskraft des Krieges: Erich Heckels 1923 gemalte Wandbilder „Das Leben der Menschen“.

Die Gegenwartskunst, obwohl vom Staat systematisch gepflegt, solange sie sich in realistischen Bahnen bewegte, fand nicht so entschiedene Förderer, wie ihn etwa Heckel in Kaesbach hatte. Die Werke von Willi Sitte, Bernhard Heisig, Werner Tübke, Wolfgang Mattheuer, Fritz Cremer und anderen sind zwar in allen Sammlungen zu finden, die sich der Gegenwart verpflichtet fühlen. Doch diesen Abteilungen haftet häufig etwas Halbherziges an; sie sind auch keineswegs immer zugänglich.

Da muß man schon aus den histori¬schen Städten hinausfahren und sich in den geschichtsträchtigen und wildromantischen Kyffhäuser begeben, um ein übermächtiges Zeichen der DDR-Kunst zu sehen. Allerdings erlebt man hier das von Tübke und fünf Mitstreitern in vier Jahren gemalte monumentale „Bauernkriegs-Panorama“ als ein wohlinszeniertes Staatstheater, das mit seiner weit über dem Land thronenden baulichen Hülle genau jene Pracht entfaltet, die das nun bankrotte System so liebte. Tübkes atemberaubende, die ganze Kunstgeschichte aufarbeitende Malerei könnte als Kunst-Attraktion dennoch überleben — nicht nur, weil die sowjetischen Experten einen Garantiepaß auf 300 Jahre für die Grundierung ausgestellt haben, sondern weil selten so exemplarisch, komplex und sinnlich die christlich-europäische Gedankenwelt nachvollzogen werden kann wie vor dieser riesigen Leinwand.
art-Sonderheft April 1990

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