Orte der Imagination

Ausstellung Rolf Escher im Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf

Rolf Escher ist einer der wenigen Künstler, die sich nahezu ausschließlich der Zeichnung und Radierung sowie Lithographie widmen. Im Laufe von vier Jahrzehnten hat er ein umfangreiches Werk geschaffen, in dem das am Rande Liegende und das Vergessene ebenso ihren Platz haben wie weitläufige Plätze und prachtvolle Bauten. Wenn Sie aus seinem Werk noch mehr sehen wollen, haben Sie bis 8. Juni die Chance, in der Städtischen Galerie Sohle 1 in Bergkamen seine Ausstellung Erinnerungsräume von Berlin bis Venedig zu studieren.
Rolf Escher ist ein Erzähler. Er entdeckt für und mit uns Räume und Orte, die er anfüllt mit Geschichten. Wir bemerken das nicht immer sofort, weil unsere Augen fasziniert sind von dem Licht, das die Räume durchflutet, von den Schatten, die Konturen geben, von den Spiegelungen, die die Erscheinungen verdoppeln, und von den üppigen Formen des Barock oder des Historismus.
Das, was wir in seinen Bildern sehen, nehmen wir als die gegenwärtige Welt wahr. Dabei sind wir mit dieser Einschätzung schon Opfer von Eschers Gestaltungskraft. Denn er formt die Welt nach seinem Bilde, obwohl oder gerade weil er mit nicht nachlassender Entdeckerfreude namenlose Portale und Flure ebenso aufsucht wie herausragende Kirchen, Paläste, Bibliotheken und Studierstuben, um in ihnen die großen Formen und die kleinsten Details aufs Sorgfältigste zu betrachten und in Skizzenbüchern festzuhalten. In der Ausstellung sehen Sie mehrere Doppelseiten aus Skizzenbüchern, die zeigen, wie zentral diese Studien für Eschers Werk sind. Wir können mit ihrer Hilfe in seine Werkstatt blicken. In den meisten Fällen wird in diesen Skizzen auch die Bildidee schon deutlich angelegt – welche Flächen Leerräume bleiben, welche Details verlebendigt werden und wo die Zeichnung sich zu den Rändern hin verliert. Der Zeichner nimmt sich die Freiheit, die Akzente neu zu setzen, indem er sich die Formen aneignet. Am Augenfälligsten wird das, wenn er auf einem Doppelblatt in eine der Pariser Passagen so viel Licht fließen lässt, dass sich Teile der architektonischen Formen aufzulösen scheinen.
Das Doppelblatt ist eine der Zeichnungen, die Rolf Escher in dieser Ausstellung Heinrich Heine gewidmet hat. Heine übersiedelte 1831 nach Paris, um der Bedrohung durch reaktionäre Kräfte und die Zensur in Deutschland zu entgehen. Der deutsche Dichter liebte die Galerien und Passagen. In ihnen konnte er zum leichtfüßigen Flaneur werden, zu einem, der sich treiben lässt.
Rolf Escher nun schildert Heines Einzug in Paris ganz im Sinne der Vorstellung des Dichters als ein triumphales Ereignis. Der spöttische Dichter stellte sich nämlich vor, ihm zu Ehren (und nicht für Ludwig XIX.)sei das Porte St. Denis errichtet worden. Rolf Escher ließ sich auf dieses Gedankenspiel ein. Er schuf eine aquarellierte Zeichnung – im Grenzbereich zur Malerei. Wir blicken aus der Gegenwart zurück in das Paris Heines – mit schemenhaften Gestalten, zwei Kutschen und einem blauen Himmel als großes Versprechen. Eine belebte Szene, die dazu einlädt, mit Heine Paris zu erobern.

12 Heinrich Heine b Porte St. Denis - a10 Das Urteil - a
Noch eine Spur malerischer wirkt das Aquarell (über Bleistift) Galerie Vivienne, in dem warme Gelbbraun-Töne vorherrschen und in dem sich die Flaneure durch ihre Schattenbilder auf dem spiegelnden Boden verdoppeln. Hier verdichtet sich das Bild zur Vision, die uns zu nachgeborenen Weggefährten Heines werden lässt. Die Vergangenheit wird gegenwärtig. Die Atmosphäre saugt uns auf. Und auf einmal wird denkbar, dass wir zu Heines Pariser Zeitgenossen werden, wie eine Bleistiftzeichnung mit einer noch hauchdünnen Aquarellierung nahelegt.
Diese bunte sechszehnköpfige Gesellschaft, zeugt von der Freude des Zeichners, uns auf die Bühne der Geschichte einzuladen, uns zu kostümieren und in die Rollen historischer Persönlichkeiten zu schlüpfen. Selbstbewusst haben sich die Figuren aufgebaut, dem prallen Leben zugewandt – und auch den Tod vor Augen. Denn ganz vorne und ganz hinten sind unter den Hüten zwei Todesgestalten zu sehen, durch deren Auftritt die Versammlung aus der Zeit geholt wird. Doch wie so oft hat hier der Auftritt von Gevatter Tod etwas Verschwörerisches, Groteskes. Rolf Escher liebt die Maskerade, und das Vanitas-Motiv der Totenschädel gehört dazu.
Damit komme ich allmählich zu der Beantwortung der Frage, die wohl viele von Ihnen beschäftigt: Wie kommt ein Zeichner des 21. Jahrhunderts dazu, seine Motive in den Straßen und Häusern des 19. oder des frühen 20. Jahrhunderts aufzuspüren und sich in diese vergangenen Epochen zu versenken? Weltflucht? Nostalgie? Nein, es ist viel einfacher, viel normaler. Denn der Zeichner verhält sich im Grunde genau so, wie wir es tun, wenn wir nach Paris, Berlin oder Prag reisen. Wir füttern uns zuvor mit Informationen und Hinweisen oder haben Erinnerungen und Sätze von Autoren im Kopf, die wir schätzen und denen wir uns an unserem Reiseziel anvertrauen, damit sie sich mit den Plätzen und Räumen, die wir vor Augen haben, verbinden. Rolf Escher weist uns den Weg und verdichtet die Atmosphäre, um uns den Zeitensprung zu ermöglichen. So, wie es in dem Blatt Porte St. Denis vorstellbar ist, dass Heine in einer der Kutschen sitzt, so könnte er unter den Flaneuren in der Galerie sein.
Im vorigen Jahr hat Escher in Münster erstmals die Ausstellung DichterOrte gezeigt, zu der ein wohlfeiler Katalog erschienen ist. Sechzehn Schriftsteller und ihre Orte werden in dem Katalog vorgestellt. Hier nun konzentriert sich die Ausstellung auf fünf Autoren – Heine und Rilke in Paris, Fontane und Brecht in Berlin und Kafka in Prag.
Wenn man das gesamte Schaffen des Zeichners und Grafikers Rolf Escher in den Blick nimmt, dann bemerkt man bald, dass sich die Annäherung und Auseinandersetzung mit der Literatur durch alle Arbeitsphasen zieht. Escher ist nicht nur ein Künstler, der die Bilder seiner Vorbilder und Kollegen begierig studiert und der deshalb auch genau weiß, wo beim Zeichnen sein Platz ist, sondern er ist auch ein Mann der Literatur, einer, der die Schriften und Reisebeschreibungen der Autoren seit Lessing und Goethe im Kopf oder mindestens im Gepäck hat, wenn er unterwegs ist.
Deshalb ist es verdienstvoll, dass im Anhang des Kataloges ein Verzeichnis der Grafik-Editionen zur Literatur zu finden ist. 15 Titel sind dort aufgelistet – Lithographien zu Werken von Marie-Luise Kaschnitz beispielsweise, Joseph Roth, Thomas Mann, Theodor Fontane und auch – vor 13 Jahren bereits – von Heinrich Heine. Es sind keine Illustrationen, sondern die bildnerischen Antworten auf Zeilen, die den Künstler herausgefordert haben, den Worten gezeichnete Erzählungen entgegenzusetzen. Über viele Jahre arbeitete Escher intensiv an einer Serie von Zeichnungen, die Impressionen aus den großen europäischen Bibliotheken verarbeiteten. Er machte den Reichtum des Wissens fühlbar, führte die üppige barocke Architektur vor und hatte auch immer die Bedrohung der Ordnung vor Augen. Und so ist es kein Zufall, dass er sich durch Heines Harzreise zu dem Blatt Bibliothekstraum inspiriert fühlte, das nichts mit stiller Studierfreude zu tun hatte, sondern von einem Aufruhr und Chaos berichtete. Heine erzählte nämlich in der Harzreise von einem Traum, in dem die Göttinger Bibliothek von einem Tollhauslärm erfüllt wurde und in dem die Bücher aus ihren Regalen in die Tiefe stürzten. Die Gesellschaft, die unten den Tumult ausgelöst hatte, ähnelte in Eschers Bleistiftzeichnung einer Mischung aus Totentanz und venezianischer Karnevalsgesellschaft. Die Szene wurde zum Schauspiel, zur Groteske.
Das ist genau der Punkt, der Rolf Eschers Blätter so spannend macht Auf der einen Seite haben wir den Zeichner, der mit dem Skizzenblock auf den Knien kleinste Details studiert, notiert und in Bildideen umsetzt. Bertolt Brechts schlichtes Arbeitszimmer ist ein Beispiel dafür. Der Zeichner konzentriert sich auf den Schreibtisch und den Stuhl, auf den dahinter stehenden Ohrensessel und den Garderobenständer. Ganz vorne wird nur ein Tischchen mit Schreibtischlampe und Reiseschreibmaschine gestreift. Die daraus entwickelte Handzeichnung allerdings ordnet die Dinge neu. Auf einmal gewinnt der Raum an Weitläufigkeit. Der schlichte Charakter aber bleibt. Nur scheint der Raum, wie ihn Escher darstellt, den Dichter Brecht zur Arbeit zu rufen, denn die Schreibtischlampe und die Schreibmaschine gewinnen dominierende Präsenz. Das eingezogene Blatt Papier will beschrieben werden.
Auf der anderen Seite haben wir den zeichnenden Erzähler, der sich vom Gesehenen anregen lässt und die Räume und Plätze in Bühnen verwandelt, auf denen er sein Personal Grotesken aufführen lässt. Der vorhin erwähnte Bibliothekstraum ist ein beredtes Beispiel dafür, wie sich unter der Hand des Zeichners die Motive verselbständigen. Da offenbart sich die Seelenverwandtschaft zu Franz Kafka und dessen magischer Wirklichkeit. Lange bevor sich Rolf Escher sich mit den Dichtern und ihren Orten beschäftigt hatte, hatte er sich Kafka angenähert: Vor 40 Jahren schon schuf er eine Radierfolge zu Kafkas Erzählung Die Verwandlung, in der er das Unwirkliche wirklich werden ließ. Der Boden für den Ausflug ins Phantastische war gut vorbereitet, denn schon in frühen Stillleben hatte Escher Käfer, Hummer und anderes Getier auftauchen und ein Eigenleben führen lassen.
Die Käfer aus der Familie des Gregor Samsa wurden Rolf Eschers Wegbegleiter. Sie erobern Bibliotheken und lauern wie in dem Blatt Später Besuch im Lesesaal hinter dem letzten Leser, um dann in der Nacht die Bibliothek für sich zu haben.
In seinem Gesamtwerk verfügt Escher über ein riesiges Reservoir an Zeichnungen und Grafiken, die ins Phantastische weisen und zu immer neuen Erzählsträngen verbunden werden können. Nicht direkt zu einem Text von Franz Kafka, sondern inspiriert durch die Welt des Prager Dichters entstand etwa das Blatt Das Urteil, das wie ein Schlüsselbild zum Prozess wirkt: In dem Urteil verwandelt sich ein Paar Schuhe in einen Angeklagten, der vor einem Gericht steht, das durch vier schwarz verhüllte Stühle und einen weiß verkleideten Stuhl repräsentiert wird. Die Kamera auf dem weißen, im Zentrum stehenden Stuhl wird zum Auge des Gesetzes.
Das heißt, dass Eschers Ausflüge zu den Orten der Dichter in eine Wirklichkeit führen, die weit entfernt ist von der Baedeker-Welt. Gewiss, das alte Karussell stammt aus Rilkes Paris-Erinnerungen, die historische Berliner Apotheke bringt uns in die Welt Fontanes und Kafkas Wohnhaus können wir betrachten. Aber Escher denkt über die engen Bezüge hinaus und schafft einen eigenen Kosmos.

B.B. - a Brechts Arbeitszimmer - a
Bemerkenswert an der Serie der DichterOrte ist die Tatsache, dass sich Escher erstmalig zielstrebig der Porträtzeichnung widmet. Über weite Strecken schien das Porträt für den Zeichner kein großes Thema gewesen zu sein. Wohl gab es im Frühwerk Studien alter Menschen, die oft Sinnbilder für die Verlorenheit und das Verlassensein waren, auch gab es gelegentlich Verbeugungen vor Künstlerkollegen wie Meryon, Watteau oder Atget, doch schien in der Welt der Stillleben, der Plätze und Paläste und der Eindringlinge wenig Raum für die Auseinandersetzung mit dem menschlichen Antlitz zu sein. Das hat sich in den vergangenen zehn, 15 Jahren entschieden geändert, wobei Escher in die Reihe der Porträts auch expressive Köpfe von Skulpturen einreihte. Rolf Escher reizte es mehr und mehr, auch von historischen Persönlichkeiten, von denen lange Porträtreihen überliefert sind, eigene Ansichten anzufertigen und um den passenden Ausdruck zu ringen. Dabei überrascht immer wieder, wie es Escher mit Hilfe von ein paar Aquarellstrichen gelingt, die Dichter in eine imaginäre Räumlichkeit zu versetzen. Diese neuen Porträts sind im historischen Sinn nicht unbedingt wahrer, aber sie sind mit Blick auf Eschers Werk treffender und bescheren neue Nuancen.
Nehmen Sie die zwei verschiedenen (im Katalog enthaltenen) Porträtfassungen zu Bertolt Brecht, für die ein Foto von Paul Hamann die Vorlage lieferte. Zu sehen ist, wie Brecht seine Brille neu ausrichtet und dabei eine Zigarre zwischen den Fingern hält. In der Porträtskizze erscheint der Dichter leicht in sich gekehrt; er ist schwer einzuordnen. In der ausgeführten Zeichnung ist sein Kopf runder und präsenter. Das Gesicht wirkt verschmitzter und listiger, obwohl es eigentlich verschlossen bleibt. Dadurch, dass der Blick am Betrachter vorbei geht, entzieht es sich der Eindeutigkeit.
Zu Recht macht diese Ausstellung das Porträt zu einem Schwerpunkt in Eschers Werk. In diese Reihe gehört natürlich auch die inzwischen große Zahl von Selbstporträts, von denen Sie hier zwei Beispiele sehen. Von ein oder zwei Ausnahmen abgesehen, sind die Selbstporträt deshalb so spannend, weil sie ein Grundthema von Eschers Kompositionsweise aufnehmen – nämlich das, was eigentlich ins Zentrum gehört, an den Rand zu drücken oder zu verbergen, so als wollte sich der Zeichner sich dem Selbstbild entziehen, dem er sich gerade stellt.
27. 4. 2014

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