Der Kreis schließt sich

Ausstellung Maarten Thiel in der Kasseler Sparkasse

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
es ist genau 14 Jahre her, dass in diesen Räumen der Kasseler Sparkasse ein Überblick über das Schaffen von Maarten Thiel geboten wurde. Es war die bislang letzte repräsentative Ausstellung des Thielschen Werkes in Kassel, nachdem ihm 18 Jahre zuvor der Kasseler Kunstverein seine Räume zur Verfügung gestellt hatte. Diese großen Abstände – 14 und nochmals 18 Jahre – verdeutlichen, wie schwer es auch etablierte regionale Künstler haben, in angemessenen Zeiträumen ihre Arbeiten vorzustellen. Zwar haben sich vor einiger Zeit verschiedene Künstlerinitiaven verständigt und eine respektable Ausstellungsreihe im Südflügel des Kulturbahnhofs aus der Taufe gehoben, doch es fehlt eine Institution, die sich der regionalen Künstlerschaft verpflichtet fühlt und insbesondere für Einzelausstellungen sorgt.
Insofern muss man der Sparkasse zu großem Dank verpflichtet sein, dass sie sich gelegentlich dieser Aufgabe annimmt. Und es ist nur zu hoffen, dass sie auch in Zukunft dieser Linie treu bleibt. Die Räume sind, wie Sie in dieser Ausstellung sehen, dafür da.
Maarten Thiel jedenfalls hätte sich über diese Ausstellungsmöglichkeit gefreut. Doch er konnte die Vorbereitungen nicht mehr erleben. Er starb vor knapp sechs Jahren. Gestern wäre er 69 Jahre alt geworden. Dass das Projekt möglich wurde, ist den Verantwortlichen der Kasseler Sparkasse zu verdanken und natürlich Christa Thiel, die sich stetig darum bemüht, dass das Werk ihres Mannes lebendig bleibt. Sie hat auch im Wesentlichen die Auswahl getroffen.
Die Ausstellung versteht sich nicht als Retrospektive. Das allerdings hätten nicht die räumlichen Verhältnisse erlaubt, vor allem aber hätte man sich um aufwändige Leihgaben bemühen müssen. Repräsentativ ist das, was Sie sehen, trotzdem. Die Ausstellung vermittelt einen sehr guten Einblick in das Schaffen der letzten zwei Jahrzehnte.
Maarten Thiel war auf fünf Ebenen tätig: Er malte und zeichnete, er schuf Radierungen und plastische Objekte und er verwirklichte zahlreiche Architektur bezogene Farbkonzepte. Diese Ausstellung konzentriert sich auf die Malerei, Zeichnungen und Radierungen, zumal die Farbkonzepte erst kürzlich im Kasseler Architekturzentrum (KAZ) zu sehen waren.
Als junger Mann hatte Maarten Thiel nicht gewusst, ob er Künstler oder Biologe werden sollte. Er war ein früh begabter Zeichner und ein Liebhaber der Botanik. Zum Glück hat er sich für die künstlerische Seite entschieden. Doch sein Interesse an der Biologie, an den Formen der Natur, an den Blättern, Palmen und Ahornflügeln, an den Steinen und Wurzeln, an den Küsten und Meeren blieb. Und daraus entwickelte sich wiederum die Freude an Booten und Seekarten, an Pyramiden und Segeln, an Flechtwerk und Federn. Bis zuletzt waren Spuren dieser Begeisterung für all das, was zu den Elementarformen der Landschaft gehört, in Thiels Bildern zu erkennen, in der Malerei eher begrenzt, in den Bleistiftzeichnungen umso deutlicher.
Als ich Anfang der 70er Jahre Maarten Thiels Bilder kennen lernte, arbeitete er im Wesentlichen als Zeichner und Grafiker, wobei seine Radierungen stets die Lust an der Farbe bezeugten. In Thiels Bildern verbanden sich damals botanische Motive mit Visionen des Phantastischen. Für einige Zeit schien er sich einem magischen Realismus anzunähern. Doch dann traten die Naturformen zurück. Thiels Bilder wurden abstrakter, aber nie völlig ungegenständlich. Das hängt damit zusammen, dass Maarten Thiel ein Erzähler war, dass er die Betrachter seiner Bilder mit auf Reisen nehmen wollte – in eine Welt, in der seine aus der realen Welt übernommene Motive Orientierungspunkte bildeten.
Dass er bis zum Schluss dieser Linie treu blieb, können Sie sehr gut an Hand der Bleistiftzeichnungen studieren, die Maarten Thiel zwei bis drei Jahre vor seinem Tod schuf. Von weitem sehen Sie schon, dass in den gezeigten neun Zeichnungen die Motive überwiegen, die mit der Natur zu tun haben – seien es nun Pflanzen, Federn, Boote oder Seezeichen. Mal stilisierte er die Formen, dann wieder folgte er ganz dicht den Vorgaben der Natur. In den Zeichnungen setzte er auf das Prinzip der Reihung und stellte die Naturformen in ein Spannungsverhältnis zu feinen Liniensystemen, Lochplatten oder konstruktiven Strukturen.
Zwanzig Jahre zuvor hatte Thiel eine Serie von Zeichnungen geschaffen, die voller Dynamik und Kontrast waren. Es waren expressive, wilde Bilder. Der Graphit-Stift setzte harte Akzente. Man spürte noch die Handschrift eines Zeichners, der früher auf die Härte der Feder gesetzt hatte. Im Vergleich dazu wirken die Zeichnungen aus den Jahren 2005/2006 sanft und harmonisch. Selbst da, wo konstruktive und natürliche Formen aufeinander treffen, bleibt die ausgleichende Komposition erhalten. Maarten Thiel hatte mit dieser Serie von Zeichnungen eine neue Gestaltungsebene erreicht und damit seine gewohnte zeichnerische Handschrift weit hinter sich gelassen. Die Bilder dieser Phase sind auch deshalb ungewöhnlich, weil sie bis hin zu den Rändern durchgestaltet sind und in ihrer Sanftheit der Malerei sehr nahe kommen, obwohl ausschließlich der Bleistift den Ton angibt keine weitere Farbe zu sehen ist.
Betrachtet man diese Zeichnungen, dann ist für denjenigen, der Thiels Werk nicht kennt, kaum nachvollziehbar, dass zur selben Zeit großflächige Acryl-Bilder entstanden, die sich ganz der Sprache der Farbe aussetzten. Nehmen wir als Beispiel das Gemälde Midnight Passage. Wir blicken auf eine große grau-blaue Fläche, die rechts und links jeweils durch einen schwarzen Streifen, eine gelbe Linie sowie einen graublauen Lochboden und einen anthrazitfarbenen Streifen gerahmt wird. Die Komposition irritiert, weil sie spiegelbildlich angelegt ist, aber die exakte Symmetrie knapp verfehlt. Damit sind wir bei einem zentralen Aspekt von Maarten Thiels Malerei: Genau die vorausberechenbare Ordnung und Perfektion wollte er vermeiden. Er suchte die Verschiebung aus der Achse, die Störung der Ordnung. So konnte sich die Spannung aus der inneren Logik des Bildes aufbauen.
Maarten Thiel war ein Suchender, allerdings ein passiver Suchender. Hatte er ein neues Bild begonnen, traute er sich der Pinselführung an, ließ er sich treiben und das Bild sich wie von selbst entwickeln. Doch nur selten war er mit dem ersten Durchgang zufrieden. Hier drohte die Komposition zu edel, zu perfekt zu werden, da war der Farbraum zu flach. So übermalte er das Bild, legte eine zweite und dritte Schicht darüber. Bis zu acht Schichten konnten da entstehen. Bildlösungen waren darunter, die wir als Außenstehende gut gefunden hatten. Mehr als einmal passierte es, dass ich nach einem Bild fragte, das ich ein halbes Jahr zuvor im Atelier gesehen hatte. Es war nicht mehr da, es war unter einer anderen Komposition verschwunden.
Diese Vorgehensweise hatte nur vordergründig mit Selbstzweifeln zu tun. Sie versprach auch eine besondere Qualität. Nehmen Sie noch einmal Midnight Passage als Beispiel: Wenn Sie die große graublaue Fläche aus der Nähe betrachten, entdecken Sie unterschiedliche Hell- und Dunkeltöne, denn durch die zahlreichen Schichten entstehen Räume, die dem Bild plastische Kraft verleihen.
Noch ein Wort zur Frage nach der Gegenständlichkeit. Wir tendieren dazu, die Malerei von Maarten Thiel aus den letzten 15 Jahren vorwiegend als abstrakt zu bezeichnen. Das ist aber nicht ganz richtig. Ganz abgesehen davon, dass Maarten Thiel die große Fläche als konkreten Farbraum verstanden hat, stellen die schwarzgelben Balken eine klare Begrenzung dar. Dem Bildtitel entsprechend könnte man die Balken als Fahrrinne einer mitternächtlichen Passage empfinden. Doch ausschlaggebend ist für mich die Tatsache, dass die beiden Lochböden alles andere als abstrakt sind. Es sind Elemente einer illusionistischen gegenständlichen Malerei – eine Kunst der Augentäuschung.
Vieles von dem, was ich gerade beschrieben habe, ist auch auf das vordere Bild der Einladungskarte (Ohne Titel) übertragbar. Die im oberen Viertel versprochene Symmetrie wird nicht eingelöst. Auch diese Komposition bezieht ihre Kraft aus dem Blaugrau-Gelb-Kontrast. Vor allem aber lebt die Komposition aus der vielfarbigen Lebendigkeit, die unter der letzten Übermalung verborgen ist, sich aber nach oben durchsetzt.
Als drittes Beispiel möchte ich das Acryl-Bild Arrow aus dem Jahre 2000 nennen. Diese Komposition besteht aus drei streng voneinander abgegrenzten Feldern, die wie eine Collage wirken, sich aber doch zu einer malerischen Einheit zusammenschließen. Der linke Streifen mit seinen grünen Kreissegmenten erscheint wie ein spielerisches Dekor. Die beiden blauen Blöcke werden zusammengeschweißt durch den plastischen Pfeil und die weiße Schraffur, die die blaue Fläche ankratzt.
Maarten Thiel liebte solche Aufbrüche, die für Bewegung sorgen, die die Ordnung stören und Platz für Emotionen schaffen. Es ist, als würde der Pfeil davon fliegen – angetrieben durch einen Rückstoß, der eine weiße Wolke hinter sich herzieht.
In der Ausstellung sehen Sie auch eine Reihe kleinformatiger Gemälde, bei denen es sich um Acryl-Farben auf Karton handelt. Die Bilder sind großflächig angelegt, manchmal in Felder gegliedert. Sie sind eher in einer verhaltenen Farbigkeit angelegt und wirken sehr harmonisch, obwohl sie sehr gegensätzliche Malweisen in sich vereinigen. Am stärksten überrascht, wenn an einzelnen Stellen aus dem Untergrund gestische Linien und eine unerwartete Farbigkeit auftauchen, wenn Partien der Oberfläche ausgelöscht werden. Diese chaotisch wirkenden Inseln sollen helfen, die allzu große Glätte der Kompositionen zu unterlaufen. Diese Stellen sind aber auch als Fenster anzusehen, die den Blick auf tiefere, übermalte Schichten freigeben.
Ein Höhepunkt ist in dieser Beziehung für mich das von Rottönen beherrschte Bild am Ende der Stellwand-Achse. Das stabile Zentrum bildet die rote Fläche, auf der eine weiße gestische, teppichartige Übermalung liegt. Die Randzonen hat Maarten Thiel so stark bearbeitet, dass sie plastisch hervortreten. In dem weiß-grauen oberen Bildraum brechen Farben und Malspuren der darunter liegenden Schichten hervor. Auch sieht man eine torsoartige Form, die an das Bild eines Vogels denken lässt. Im Malvorgang gab es ein Hin und Her von zeigen und verbergen, von übermalen und auslöschen. Insgesamt acht Malweisen wirken in dem Gemälde mit- und gegeneinander.
Eher selten entstanden großformatige Gemälde mit klaren, in sich geschlossenen Farbflächen. Eine dieser Ausnahme-Bilder ist an der Wand gegenüber von dem gerade beschriebenen Werk zu sehen. Es handelt sich um ein Querformat, das zu zwei Dritteln eine leuchtend rote Oberfläche aufweist, in der ein etwas hellerer Rhombus schwebt. Ganz links sieht man zwei breite rötlich graue beziehungsweise blaue Streifen, die abgetrennt durch eine schwarze Linie, ein Gegengewicht zu dem massiven Rot bilden. Ein rechts unten liegender schwarzer Streifen scheint die gegeneinander gesetzten Farbfelder zu stabilisieren. Aber auf keiner dieser Flächen gibt es störende Elemente. Also eine konfliktfrei angefertigte Komposition? Nicht unbedingt, denn Christa Thiel hat ein im Arbeitsprozess entstandenes Foto, das ein völlig anderes Bild zeigt: Der rote Rhombus schwebt auf weißem Grund; an den vier Eckpunkten sieht man gestische Malspuren, und auf der linken Seite befindet sich nur ein breiter blauer Streifen.
Eingangs hatte ich gesagt, dass ich Maarten Thiel als Zeichner und Grafiker kennen gelernt hatte. Dass er in den 60er Jahren bereits als Maler gearbeitet hatte, erfuhr ich erst später – durch die Ankäufe, die zeitweise in der Neuen Galerie zu sehen waren. Von diesen ganz frühen Bildern ist Maarten Thiel einen weiten Weg gegangen. Immer wieder hat er neue Ansätze gefunden und seinen Stil verändert. Und doch ist er über die vier Jahrzehnte hinweg sich treu geblieben. In einer Vitrine sehen Sie von ihm ein kleines Gemälde, in dem Maarten Thiel die Farbräume ganz ähnlich aufgebaut hat wie in den letzten Jahren und in dem er auch die Farbe wieder weggekratzt hat, wie wir zuvor gesehen haben. Nahezu 40 Jahre liegen dazwischen. Der Kreis schließt sich also.
Zwischen der Malerei und der Zeichnung hat die Farbradierung ihren Platz. Manche Künstler nutzen die Radierung in erster Linie, um Kompositionen zu vervielfältigen. Das machte Maarten Thiel auch. Doch zwischen Malerei und Zeichnung war für ihn die Radierung ein eigenes Medium, in dem er experimentieren konnte. Er entwickelte für die Radierung eine eigene Sprache, mit deren Hilfe Thiel Farbräume gestalten und überprüfen und gleichzeitig erzählerische Momente durchsetzen konnte. Vor allem erlaubte es ihm die Technik der Farbradierung ausdrucksstarke Zeichen in den Raum zu setzen und sie schweben zu lassen.
14. 5. 2014

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