Jan Hoet machte die documenta IX zu einem sinnlichen Ereignis
Der Mensch, sein Schicksal und seine Emotionen. Die documenta IX konnte die Besucher nicht gleichgültig lassen, weil sie für jede Hoffnung und jede Angst eine Arbeit bereit hielt. Man war noch nicht richtig im Museum Fridericianum, da war man umgeben von Ameisen. Peter Kogler hatte die Wände des Eingangskabinetts mit einer Tapete beklebt, auf der lauter überlebensgroße Ameisen zu sehen war. Doch man konnte sich gar nicht diesem Schauer richtig aussetzen, weil aus dem Inneren eines eingebauten Raumes die immer gleichen klagenden Töne eines Mannes kamen. Bruce Nauman hatte dort eine aufrüttelnde Video-Arbeit installiert.
Der belgische Museumsdirektor Jan Hoet hatte für diese neunte documenta alle Register gezogen und bescherte den Besuchern ein breites und vielfältiges Panorama der Kunst. Über den Körper, über die Sinneseindrücke wollte Hoet die Menschen zur Kunst bringen und sie zu Mitstreitern machen. Auch die Großskulptur auf dem Friedrichsplatz gehörte dazu. Der Amerikaner Jonathan Borofsky, der zehn Jahre zuvor in der documenta zu den jungen Wilden gehörte hatte, ließ ein Stahlrohr aus dem Boden aufsteigen, auf dem ein Mann mit schnellem Schritt nach oben strebte. „Man Walking to the Sky“ nannte Borofsky seine Arbeit. In der Stadt aber sprach man schnell vom „Himmelsstürmer“. Man sah ihn als ein Symbol des Aufstiegs, obwohl der Künstler nicht müde wurde, zu erklären, dass er diesen Mann zwischen Aufstieg und Absturz sah.
Die Öffentlichkeit ließ sich nicht beirren. Vor allem aber wurde die Arbeit so populär, dass eine Spendenaktion zum Ankauf der Skulptur gestartet wurde. Da sich die Kulturstiftungen unterstützend anschlossen, waren bald die über 600.000 Mark zusammen, die das Werk kostete. Mit der Entscheidung, den Hauptbahnhof in einen Kulturbahnhof zu verwandeln, war auch der Ort für die Aufstellung des „Himmelstürmers“ gefunden.
Populär wurde die Ausstellung auch durch Jan Hoet selbst. Während die früheren documenta-Leiter sich nur gelegentlich in der Ausstellung sehen ließen, lebte Jan Hoet mit der documenta. Man traf ihn in den Räumen und man erlebte ihn als einen unermüdlichen Führer durch seine Ausstellung. Ob es der belgische König oder ob es einfache Besucher waren, die nur mehr Informationen haben wollten, immer war Jan Hoet zum vermittelnden Gespräch bereit.
Das Populäre war vielen Kritikern unheimlich. Ihnen war die Ausstellung zu sehr am Markt und an der Szene orientiert. Sie mokierten sich auch darüber, dass in zwei Arbeiten Jan Hoet ein Denkmal gesetzt wurde. Und schließlich störten sie sich daran, dass die Grenzen zwischen Kunst und Kunstsponsoring nicht erkennbar waren. Jan Hoet hatte die Möglichkeiten der documenta als einer Ausstellung, die die aktuelle Szene in ihrer Vielfalt spiegelt, ausgereizt. Eine weitere Steigerung schien undenkbar.
Die documenta IX war bis dahin auch räumlich die expansivste Ausstellung. Neben dem Fridericianum und der neu erbauten documenta-Halle standen Jan Hoet noch das eben zur Sanierung leer geräumte Ottoneum sowie Geschäftsräume zur Verfügung. Außerdem konnte er temporäre Bauten in der Karlsaue errichten lassen. Den unbestrittenen Höhepunkt barg jedoch die Neue Galerie. Sie war nicht, wie es Hoet zuerst gewollt hatte, für die documenta leer geräumt worden. Vielmehr lud Hoet Künstler ein, die vorhandenen Räume und Arbeiten durch ihre eigenen Beiträge zu kommentieren.