Doppelte Blickrichtung – zurück und nach vorn

Die documenta X von Catherine David brachte eine Wende und war heftig umkämpft

Im Vorfeld hatte es schon Spekulationen gegeben, ob nicht erstmals eine Frau an der Spitze der documenta stehen sollte. Immerhin gab es national und international etliche Kuratorinnen, die Ausstellungshallen oder Museen leiteten. Als dann tatsächlich die Französin Catherine David berufen wurde, war die Überraschung groß, weil man sie auf keiner Rechnung gehabt hatte. Vielleicht war diese Tatsache schon der erste Grund dafür, dass Catherine David soviel Gegenwind zu spüren bekam.

Nichts, so schien es, passte ins Schema. Im Vorfeld der documenta X sprach die Französin lieber über Literatur und Film als über Kunst. Ihr selbstbewusste Art wurde ihr als Arroganz ausgelegt und die Tatsache, dass sie kein Kuratorenteam um sich scharte, sondern mit Assistentinnen arbeitete, bestätigte Kritiker und Skeptiker in der Meinung, die nächste documenta werde ein Misserfolg. Selbst als die Ausstellung schon stand und beim Publikum Zuspruch fand, hielt sich die Meinung, die documenta X sei theoriebeladen und unsinnlich. Zahlreiche Kritiken hatten einen persönlich-diffamierenden Charakter.

Was hatte Catherine David getan? Sie hatte nach Jan Hoets Ausstellung von 1992, die wie ein großes Fest gewirkt hatte, eine Wendung vollzogen und sich von dem Markt abgewandt. Sie wollte aufzeigen, welche Strategien Künstler entwickelt haben, um gesellschaftliche Prozesse zu spiegeln, und wo die Wurzeln dieser Strategien liegen. „Retroperspektive“ hieß ihr Konzept: Wie beim Autofahren wollte sie nach vorne sehen, um sich zugleich im Rückspiegel zu vergewissern, wo sie herkommt. So wurden Künstler wie Hans Haacke und Michelangelo Pistoletto mit Arbeiten und Positionen aus den 60er-Jahren vorgestellt. Und Gerhard Richter wurde nicht mit der Präsentation neuer Gemälde gefeiert, sondern mit der Ausbreitung seines Archivs „Atlas“, dessen Fotos, Collagen, Zeichnungen und Studien den Fundus bilden, aus dem er schöpft.

Zahlreiche Arbeiten der documenta beschäftigten sich mit den Folgen der Verstädterung und mit den urbanen Konglomeraten in den Randzonen. So kam es Catherine David entgegen, dass sie den am Rand der Innenstadt liegenden Hauptbahnhof mit seinem Südflügel einbeziehen und so einen Parcours vom Bahnhof über die Treppenstraße bis zur Karlsaue entwickeln konnte. Mit großer Intensität hatten sich die Ausstellungsleiterin und ihr Team mit der Stadt Kassel und ihrer Geschichte auseinandergesetzt. Mehrere Aufsätze in dem Katalogbuch legen Zeugnis davon ab.

Schon 1955 waren Filmvorführungen Bestandteil der Ausstellung. Doch erst Catherine David integrierte das Filmprogramm gleichberechtigt in das Ausstellungskonzept. Das Bali-Kino wurde damit zur zweiten Stütze im Kulturbahnhof. Hatte Jan Hoet 1992 über die documenta-Halle gejubelt, fand seine Nachfolgering die Halle für Ausstellungsinszenierungen nicht geeignet. Trotzdem gab sie der Halle eine hervorragende Bestimmung: Jeden Abend um 19 Uhr traf sich eine große Gemeinde in der documenta-Halle, um Vorträge von Künstlern und Kuratoren, von Philosophen und Politikern und von Dichtern und Wissenschaftlern zu hören. Der geistige Horizont, vor dem die Ausstellung angelegt war, wurde in der Veranstaltungsreihe „100 Tage – 100 Gäste“ unter immer neuen Bedingungen sichtbar gemacht. Wer Glück hatte, konnte in der Vortragsreihe auch Okwui Enwezor hören, der fünf Jahre später selbst die documenta leitete.

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