Mehr als eine Kunstausstellung

Carolyn Christov-Bakargiev erschloss mit der dOCUMENTA (13) einen neuen Kosmos

Noch radikaler als bei Catherine David (documenta X) war das Konzept der dOCUMENTA (13) auf die documenta-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev zugeschnitten. Die Italo-Amerikanerin wählte nicht nur die Künstlerinnen und Künstler aus, sondern legte auch Wert darauf, möglichst viele von ihnen auf ihren Rundgängen durch Kassel zu begleiten. Dabei ging es nicht nur um die möglichen Ausstellungsorte, sondern auch um das Eintauchen in die geschriebene und ungeschriebene Geschichte der Stadt. Wer lernen wollte, dass das ehrwürdige Stammhaus der documenta, das Museum Fridericianum, einst die landgräfliche Bibliothek barg, die 1941 im Bombenhagel ausbrannte, der sollte auch erfahren, dass acht Jahre zuvor die Nationalsozialisten vor dem Fridericianum die Schätze deutscher Literatur durch öffentliche Verbrennung auslöschen wollten. Auch gehörte für die Künstlerinnen und Künstler ein Besuch im ehemaligen Kloster Breitenau (Cuxhagen, Schwalm-Eder-Kreis) zum Pflichtprogramm, weil dort mehrere Stränge deutschen Unheils zusammenlaufen.
Es hatte bei Catherine David und Roger Buergel (documenta 12) Ansätze gegeben, einzelne documenta-Beiträge aus Kapiteln Kasseler Geschichte abzuleiten. Aber keine documenta zuvor hatte sich so stark in der Stadt verwurzelt. Zum Sinnbild dafür wurde der Bronzebaum von Giuseppe Penone (Idee die Pietra), der bereits zwei Jahre vor dem documenta-Start am Rande der Karlsaue verankert wurde. Der Baum wurde so sehr zum geliebten Symbol, dass die Kasseler Bürger und Unternehmen durch eine spontane Spendenaktion den Ankauf der Skulptur ermöglichen und zudem erreichen konnten, dass das Werk an seinem Standort bleiben konnte.
Waren nach der documenta 12 mehrfach Stimmen zu hören, nun habe sich der Auftrag der Kasseler Großausstellung erschöpft, trug die dOCUMENTA (13) dazu bei, dass die Existenzberechtigung dieser Ausstellung nicht länger in Frage gestellt wurde. Viele Faktoren trugen dazu bei: Es war eine hochpolitische und zugleich eine äußerst sinnliche Ausstellung. Auch honorierten die Besucher (und die meisten Kritiker), dass die Ausweitung der Ausstellung in den Stadtraum und in die Karlsaue nicht nur etwas mit zum Zugewinn an Ausstellungsflächen zu tun hatte, sondern mit den spezifischen Orten und deren Geschichte.
Das Konzept der Ausstellung basierte auf einer komplexen Auseinandersetzung mit den für die Gesellschaft wichtigen Fragen zur Kunst und Philosophie, zum Kreislauf von Zerstörung und Wiederaufbau und zur Frage nach der gegenseitigen Befruchtung von Kunst und Wissenschaft. So direkt wie keine documenta-Leitung vor ihr brachte sich Carolyn Christov-Bakargiev in die Gestaltung der Ausstellung selbst ein. Das wie eine begehbare Vitrine gestaltete Brain (Gehirn, Herz) in der Erdgeschossrotunde war ihr Bild gewordenes Konzept. Kleine künstlerische Arbeiten waren dort ebenso zu sehen wie Reliquien unterschiedlichster Kulturen.
Keine Frage unserer Gegenwart, die nicht berührt wurde, keine Kulturregion, die nicht bedacht wurde, keine Form der Kunst, die nicht zu sehen war. In der Tat war diese documenta weit mehr als eine Ausstellung – eine kulturelle Manifestation, die von der Gegenwart bis zu den Ursprüngen unseres Weltalls zurückgriff. Das gewagteste Experiment der dOCUMENTA (13) war die Entscheidung, einen gewichtigen Teil der Ausstellung in Gartenhäuschen in der Karlsaue zu zeigen. Das Konzept ging auf. Und ebenso berührend war die Tatsache, dass alle Sinne herausgefordert wurden – einschließlich eines neuen Körpergefühls wie in Ryan Ganders winddurchwehter Leere im Fridericianum oder wie in Tino Sehgals Tanzperformance in einem dunklen Raum.

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