Als Adam Szymczyk im Oktober 2014 ankündigte, die documenta 14 werde gleichberechtigt in Athen und Kassel stattfinden, war die Aufregung in Kassel groß. Nicht nur deshalb, weil einige befürchteten, die documenta werde sich aus Kassel verabschieden (die CDU glaubt, immer noch daraus Wahlkampfmunition formen zu können). Auch fragten sich viele, warum denn ausgerechnet Athen zum zweiten documenta-Standbein werden solle.
Fünfzehn Monate später sieht die Lage ganz anders aus. Erst entwickelte sich die griechische Hauptstadt duch das Parteiengezerre, die Schulden- und Haushaltspolitik zu dem Krisenzentrum Europas, an dem man nicht vorbeisehen konnte, wenn man an die Europäische Union dachte. Und dann verlor man die Finanzpolitik doch aus dem Blick, weil eine noch viel heftigere Krise Europa erschütterte – der Vielfrontenkrieg in Syrien, Irak, Libyen und den Nachbarregionen und der daraus entstandene Flüchtlingsstrom, der wie eine gewaltige Welle über das Mittelmeer und die Türkei nach Europa schwappt.
Hatten wir Deutschen vor ein oder zwei Jahren noch gedacht, die Flüchtlingswelle betreffe nur Italien und Spanien, fanden wir uns plötzlich als unfreiwilige Akteure wieder. Und Griechenland wurde auf einmal zum Umschlagplatz der aus der Türkei strömenden Massen. Hier wie dort konnte man nicht länger nur zuschauen, sondern musste handeln. Und der die arabischen Staaten erschütternde Krieg war plötzlich auch unser Krieg geworden, mit dem man sich auseinander setzen muss und dessen Ursachen und Hintergründe wir für uns selbst erklären mussen. Das, was 2014 in weiter Ferne lag, hat uns eingeholt.
Angesichts dieser Ereignisse hat sich der Charakter der Arbeit an der documenta 14 total verändert. Wenn Adam Szymczyk und sein Team in Beirut eintreffen, Stunden bevor dort eine Bombe explodiert und 43 Menschen sterben und 239 verletzt werden, und wenn einen Tag später gezielte Anschläge in Paris 129 Menschen getötet und 352 verletzt werden, dann kann die Suche nach Künstlern und ihren Werken nicht einfach so weitergehen, wie es früher einmal war. Der documenta-Leiter muss reagieren und erschüttert zur Kenntnis nehmen, was rund um ihn und sein Team passiert.
Insofern hat die documenta schon begonnen, weil auf der Homepage der Ausstellung all das abgeladen werden kann, was unsere Gegenwart ausmacht. Wer die documenta-Homepage studiert, wird Zeitzeuge der menschengemachten Katastrophen, des Schreckens und der Angst.
Man liest nüchterne tagebuchähnliche Notizen, man findet poetische Texte, die im Angesicht des Todes geschrieben worden sind, und man studiert Manifeste und Beschwörungen einer besseren Zukunft.
In die Texte eingestreut sind acht kleine Filme, die das Künstlerkollektiv „abou naddara“ gedreht hat. Die Filme erheben keinen künstlerischen Anspruch. Sie stehen ganz im Dienst der Realität, sie wollen dokumentieren. Ein dreiteiliger Film zeigt ein Interview mit einem Mann, der in die Hände der IS-Kämpfer gefallen ist. Zwei Filme lassen uns miterleben, wie Boots-Flüchtlinge in Europa ankommen. Und dann sehen wir, wie Kinder im syrischen Alltag Trinkwasser herbeischleppen müssen.
Die Filme des Künstlerkollektivs „abou naddara“ sind kurz und bewusst auf das youtube-Format zugeschnitten. Jeden Freitag (Tag des Gebets und der Muße) werden die Filme online gestellt. Szymczyk hat diesen Rhythmus für die Präsentation auf der documenta-Hompage übernommen.
Wer diese Texte liest und Filme sieht, fragt nicht nach ästhetischen Neuentwicklungen. Aber im Sinne der Ausstellung, die wir 2017 sehen wollen (und hoffentlich auch können), ist es gut, dass diese Erschütterungen im Vorfeld der Ausstellung abgearbeitet werden. Wir werden unmittelbare Zeugen dieser Realität. Und dadurch, dass wir uns jetzt schon damit auseinander setzen können, werden die Ausstellungsmacher und das Publikum frei für eine künstlerische Aufarbeitung der Ereignisse.