Nachdem im Fridericianum zu erleben war, wie Künstler mit der Zeitvorstellung spielen, ist dort nun eine kulturgeschichtliche Ausstellung über das Entstehen der Zeitbegriffe und -bilder zu sehen.
Über den Jahres- und Zeitenwechsel hinweg wird im Kasseler Museum Fridericianum eine vielschichtige kulturgeschichtliche Ausstellung gezeigt, die dokumentiert, wie die Menschen durch Jahrhunderte hindurch im Banne der unaufhörlich fließenden Zeit lebten und wie sie immer wieder versuchten, die Herrschaft über die Zeit zu erringen, um dann doch zu ihren Sklaven zu werden. Der reich bebilderte und in seinem Aufbau für das Verständnis der Ausstellung hilfreiche Katalog (Edition Minerva, 576 S., 56 Mark in der Ausstellung) ermöglicht, die Bilder und Objekte in den Zusammenhängen zu verstehen. Außerdem wird von der Museumspädagogik ein umfangreiches Programm für Jugendliche und Erwachsene angeboten.
Es ist ein gewaltiges Projekt, das die Staatlichen Museen Kassel mit Unterstützung von Wintershall und Gazprom sowie in Zusammenarbeit mit Moskauer Museen auf die Beine gestellt haben – in gedanklicher wie in mengenmäßiger Hinsicht. Das wäre Stoff für mehrere Ausstellungen gewesen; und man merkt an einigen Stellen, dass die Macher sich und die im ersten Stock des Fridericianums zur Verfügung stehenden Räume zuweilen überfordert haben. So gerät die Abteilung, die Zeitbegriffe .des Judentums beleuchtet, durch die durchaus sehenswerte Dokumentation der Volksbräuche in Bedrängnis. Insgesamt hätte die Schau gewonnen, wenn man sich bei der Auswahl stärker beschränkt hätte. Zwei unterschiedliche Ideen liegen der Ausstellung zu Grunde. Die eine zielt auf die bevorstehende Zeitenwende.
Ausgehend von der These, daß man 1800 und 1900 geglaubt habe, mit dem Jahrhundert wechsle auch das Lebens- und Stilgefühl, wird der Umgang mit der Zeit in den verschiedenen Epochen und Kulturräumen untersucht. Die andere bezieht sich auf den Ursprung unserer Zeitrechnung, nämlich Christi Geburt. Aus Moskau, wo vor allem die Tretjakow-Galerie über einen reichen Ikonenschatz verfügt, war der Gedanke an eine Marien-Ausstellung an die Staatlichen Museen Kassel herangetragen worden. Die führten beide Ideen zusammen und entwarfen das Konzept für eine Ausstellung mit vielen Quer- und Zwischenbezügen.
Aus der Tretjakow-Galerie kommt auch eines der schönsten Stücke, die Ikone „Christi Geburt“ (15. Jahrhundert), deren Zentrum die auf einem roten Stoff ruhende Maria bildet. Diese Ikone steht nicht nur für die neue Zeit, die seitdem in der christlichen Welt gilt. Sie ist auch ein frühes Beispiel dafür, wie durch das Nebeneinanderstellen mehrerer Szenen auf einem Bild Zeitabläufe sichtbar gemacht werden können. Von dieser Ikone lässt sich quer durch die Abteilungen ein Bogen zu den Bildern des frühen
20. Jahrhunderts schlagen, auf denen die Kubisten und Futuristen versuchten, die Beschleunigung und den beginnenden Geschwindigkeitsrausch bildlich zu verarbeiten. In dieser Schlussabteilung lernt man mehrere fast unbekannte Meisterwerke von Chagall über Kandinsky bis zu Malewitsch kennen. Die Bilder leiden allerdings unter den zu intensiv blau geratenen Hintergrundwänden. Man kann die Ausstellung unter höchst unterschiedlichen Aspekten durchwandern. Die räumliche Gliederung bietet einen Gang durch die Epochen (von der Vorzeit über die Antike bis zur Moderne) an.
Ebenso gut kann man verfolgen, wie vielfältig die Anstrengungen waren, die Zeit zu messen und den Jahresablauf zu berechnen. Vor allem für die Zeitmessgeräte und astronomischen Instrumente verfügen die Staatlichen Museen im Museum für Astronomie über einen stattlichen Fundus, der reichlich genutzt wurde. Auch dies ist ein Aspekt der Ausstellung: Das Projekt bot die Möglichkeit, (Kasseler) Objekte unter einem thematischen Ansatz zusammenzuführen, die sonst nie in Beziehung zu einander stehen.
HNA 11. 12. 1999