Vom Anfang und Ende der Zeit

Es ist gerade 200 Jahre her, dass der preußische Historiker Friedrich Straß versuchte, mit Hilfe einer grafischen Darstellung die Generationenabfolge von Adam und Eva bis zu Napoleon sichtbar zu machen. Er stellte die Menschheit als einen sich vielfach verzweigenden Strom dar, der im Laufe der Geschichte immer mehr Völker und Kulturen hervor brachte. Dieser „Strom der Zeit“ war zu Beginn des 19. Jahrhunderts so populär, dass die Grafik in andere Sprachen übersetzt und nachgedruckt wurde. In der Kasseler Ausstellung „Geburt der Zeit“, die sich dem Thema kulturgeschichtlich und naturwissenschaftlich nähert, ist eine russische Fassung der Grafik von 1818 zu sehen, die aus vier Blättern besteht und vier Meter lang ist.
Aus unserer heutigen Sicht wirkt ein solcher Versuch, in einem überschaubaren Bild die Geschichte der gesamten Menschheit zu erfassen, liebenswert und naiv zugleich. Während noch vor ein paar Jahrhunderten die Meinung bestand, Gott habe, wie in der Bibel beschrieben, die Welt in einem konzentrierten Zeitraum (eine Woche) erschaffen und die Menschheit sei gerade 6000 Jahre alt, rechnen wir heute in Zeiträumen, die uns ewig erscheinen. Der Welt wird, wie es im Katalog zur Ausstellung heißt, ein Alter von 4,5 Milliarden Jahren zugestanden; und die Geschichte der Menschen beginnt demnach vor 2,5 Millionen Jahren. Angesichts solcher Dimensionen spielen, wie es es scheint, die 2000 Jahre, die seit Christi Geburt vergangen sind und die der Leitfaden unseres historischen Denkens sind, kaum eine Rolle. Trotzdem können wir in einer Zeit, in der sich die Bindung an die christliche Kirchen und an das von ihnen propagierte Denken gelockert haben, nicht daran vorbei gehen, dass unsere
Vorstellungen von Geschichte und Kultur dadurch geprägt sind, dass Christi Geburt als das entscheidende Orientierungsdatum gilt.

Seit etwa 1500 Jahren ist es üblich, die Epochen der Menschheit in die Zeit vor und nach Christus aufzuteilen. Das Christentum hat damit die epochale amtliche Zeitrechnung vorgegeben. Und somit haben die Bilder und Ikonen, die Christi Geburt darstellen, nicht nur einen religiösen oder einen kunsthistorischen Hintergrund. Sie sind vielmehr Belege für eine radikale Zeitenwende, wie sie kein zweites Mal erfolgte. Die Ausstellung macht aber auch deutlich, dass die Zeit und damit die Menschheitsgeschichte für viele Generationen ein endlicher und im Grunde kalkulierbarer Raum war. So, wie man bis ins 18. Jahrhundert glaubte, die Linie bis zu Adam und Eva sei relativ bruchlos zurückzuverfolgen, genau so meinten die Gläubigen, das Ende der Welt sei absehbar und möglicherweise noch von ihnen zu erleben.
Obwohl das Weltenende oftmals mit der Vorstellung der Apokalypse verbunden wurde, erwarteten die Gläubigen den Untergang der Welt nicht mit Schrecken. Vielmehr begriffen viele von ihnen die Wiederkunft Christi (mit dem Weltgericht) als die Vorstufe zur Erlösung von den irdischen Lasten. So erwuchs aus diesem Glauben das Bild von einem neuen Paradies. Der Untergang selbst, die Apokalypse, wurde vor diesem Hintergrund nur als ein reinigendes Gewitter gesehen. Wir sind heute weit entfernt von einem Denken, das einen eindeutigen Anfang und ein klares (zu erhoffendes) Ende für die Welt setzt. Um so wichtiger ist, dass die Ausstellung mit ihren Bildern von der Schöpfungsgeschichte und von der Geburt Christi sowie mit ihren Endzeitvisionen uns daran erinnert, dass es gar nicht so lange her ist, dass die Menschen völlig andere Zeit- und Wunschvorstellungen hatten.

HNA 18. 1. 2000

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