Die lange Suche nach der lebendigen Mitte
Berlin im Bau- und Hauptstadtfieber. Eine aufregende Sache für Planer, Bauunternehmen und Touristen. Vor allem fasziniert die Frage, wo denn die neue Mitte zu finden ist. „Stadtmitte“ heißt die UBahn-Station. Sie liegt in der Friedrichstraße nahe der Leipziger Straße. Von hier aus sind es nur ein paar Minuten zur legendären Prachtstraße „Unter den Linden“ und zum Brandenburger Tor auf der einen Seite und zum Potsdamer Platz und dem Kulturforum auf der anderen.
In dieser Schlucht zwischen den sechs-, acht- und zehnstöckigen Baublöcken sind wir mittendrin, im Zentrum der Hauptstadt. Beiderseits der Straße und in den weitläufigen Einkaufsgalerien haben sich hochklassige und luxuriöse Geschäfte angesiedelt: Einladung zum Flanieren und Bummeln. Aber wer flaniert hier schon? Auch kurz nach Mittag ist die Friedrichstraße so schwach belebt wie eine Einkaufsstraße am frühen Morgen. Die Galerien und Läden sind nicht leer. Doch alles erscheint wie ein Zentrum im Wartestand. Der Tisch ist gedeckt, die Kellner stehen bereit – nun müssen und können die Gäste kommen. Doch deren Arbeitsplätze, die Büros in den Ministerien und Botschaften, in den Verwaltungs- und Medienzentralen, müssen noch gebaut oder saniert werden. Vor 2000 passiert hier nicht viel.
Also auf zu der viel beschworenen neuen Mitte am Potsdamer Platz, dahin, wo das Großstadtleben wieder pulsieren soll. Es sind nur ein paar Minuten. Aber die werden zur quälenden Ewigkeit, wenn man den Weg zu Fuß zurücklegt und sich durch die Leipziger Straße, begleitet von Autoschlangen und Autostaus, durchkämpft. Mehrfach muß man wegen der Bauzäune und Baumaschinen die Gehsteigseite wechseln. Ein Spießrutenlauf. Gibt es denn sonst keine Fußgänger in diesem Teil Berlins? Es ist ein Weg wie durch ein Niemandsland. In der Friedrichstraße haben die eleganten Geschäfte und großen Filialen die Erinnerungen an die DDR-Vergangenheit fortgespült. In Höhe der Wilhelmstraße aber erscheint die vernarbte Landschaft, die sich beiderseits der Mauer hinzog, unverfälscht. In den postmodern gefärbten Plattenbauten, die just zur Wendezeit errichtet wurden, residieren immer noch überraschend viele Läden, die Bezug zu Rußland und dem früheren Ostblock haben. Einen Steinwurf weiter hat man Mühe, sich den Leipziger Platz als baulich attraktives und vitales Zentrum vorzustellen. Jetzt ist er nur eine öde, planierte Fläche, auf der trotzig und verlassen allein das jugendstilhafte Mosse-Palais steht.
Wenn es wahr bleibt, daß nach dem Scheitern des ersten Bebauungsplanes nun erst mal die Kämpfe um die Besitzrechte losgehen und der Leipziger Platz auf längere Sicht eine riesige Baulücke bleibt, dann wird der sich anschließende Potsdamer Platz nicht so schnell sein Inseldasein verlieren. Daß hier mal der Grenzstreifen mit Mauer und Todesschußlinie verlief, ist unübersehbar. Da können die Hochhausblocks aus Stahl, Glas und Beton am Potsdamer Platz noch so massiv und spiegelnd in den Himmel wachsen. Denn dort, wo die rote Info-Box steht, deren Dachterrasse derzeit zu den wichtigsten Touristenzielen gehört, weil man von ihr wirklich Europas größte Baustelle überblicken kann, herrscht nicht nur Einöde, sondern stehen auch Reste der Mauer und des DDR-Bewachungssystems. Hier sind auch wieder Mensehen zu Fuß unterwegs. Sie strömen aus den Bussen, um die Info-Box mit ihren Visionen von der neuen Hauptstadt zu stürmen, und sie kommen aus aus der Tiefe der U-Bahn- und S-Bahn-Stationen. Widersprüchlicher könnte die Situation nicht sein: Hier der häßliche, abweisende Platz, durch den sich der Verkehr wälzt, da am Kopfende der Leipziger Straße das noch hochwachsende Tor, das schon jetzt die zwei Hochhaustürme des Sony- und Daimler-Benz-Centers bilden, und dort die Büro- und Geschäftsbauten, bei denen man aus der Ferne nicht unterscheiden kann, ob sie noch im Bau oder schon fertig sind.
Nur ein paar Schritte weiter ist man eingetaucht in die Schluchten jener eng verzahnten Bauten, die den Anspruch erheben, das neue Zentrum zu sein. Die romantischen Straßennamen wollen nicht dazu passen: Joseph-von-Eichendorff-Gasse, Schellingstraße und Brüder-Grimm-Gasse. Es ist ein kaltes Herz, dem genau der Charme der breiten Alleen fehlt, die Berlin auszeichnen. Viel Wind und wenig Sonne rund um die Hausecken und jetzt auch schon Hinterhofsituationen: Denn das langgestreckte Haus, in dem der Stella-Konzern seinen Musical-Betrieb aufzieht und in dem die Spielbank residiert, bedrängt die dahinter liegende Staatsbibliothek so sehr, daß zwischen den gewaltigen Bauten, die einander die Rückseiten zukehren, sich ein geradezu abweisender schmaler Weg hinzieht.
Und dann plötzlich doch das volle Leben: In der dreistöckigen Einkaufsgalerie der Potsdamer Platz Arkaden geht es fast so zu wie am Kurfürstendamm, obwohl es gar nicht so besondere Läden gibt und die Passage vielen anderen gleicht. Im Wiener Cafe, oben auf der Galerie, sitzen Damenkränzchen bei Kaffee und Torte, als wäre das seit Jahrzehnten ihr Stammplatz. Die Kälte des Außenbezirks ist vergessen. Aber wie sind sie nur auf diese Konsuminsel gekommen? Mit dem Auto natürlich in die Tiefgarage oder mit der S-Bahn, von deren Station ein unterirdischer Gang direkt in die Arkaden führt. Aber zu Fuß doch nicht.
HNA 31. 1. 1999