Orangen, Schnee und ein elastisches Leben

Brennende Sonne, Schmutz, Mafia und Touristenmassen: Sizilien leidet unter den Vorurteilen. Alles nicht (mehr) wahr, sagen die Sizilianer und propagieren ihre Insel als Urlaubsziel im Winter. Wenn Bettina mit ihrer etwas heiseren Stimme von der Orangen-Insel schwärmt, wenn sie davon berichtet, wie immer mehr Bürgermeister und Richter der Mafia der Stirn bieten, oder wenn sie mit energischem Charme ihr Italienisch sprudeln läßt, um ihrer Reisegruppe Zutritt in das Haus eines Malers oder in einer Käserei zu verschaffen, dann vergißt man, daß sie Deutsche ist und aus Wuppertal kommt.
Ihr Erklärungswort heißt: „Das muß man elastisch sehen.“ Kann sein, kann nicht sein, meint sie damit; alles ist möglich, meistens aber besser, als man denkt. Die Lebensphilosophie hat sie von den Inselbewohnern übernommen, die den Griechen, Nordafrikanern, Spaniern, Franzosen und Normannen verwandtschaftlich genauso nahe sind wie den Italienern. Unsere Reiseleiterin Bettina, in Taormina mit einem Mann aus Kalabrien verheiratet, ist ganz Sizilianerin. Sie wischt alle gängigen Meinungen über die größte Mittelmeerinsel vom Tisch und hämmert den Besuchern aus Deutschland ein: Diese Insel ist fruchtbar und reich, sie ist eine Wiege europäischer Kultur und: „Schauen Sie, wie sauber hier alles ist.“
Wir hatten uns mit großem Gepäck aufgemacht, denn uns würden, so hatte in den Unterlagen gestanden, frühlingshafte Temperaturen erwarten, wir sollten aber auch für Schnee gerüstet sein, da der Ätna Wintersportgebiet sei. Sizilien im Winter – ein vielversprechendes Ziel? Sind die Hotels überhaupt geheizt? Die Wetterkarte hatte Gewitterwolken über der Sonneninsel gezeigt. Und beim Landeanflug auf die ostsizilianischen Stadt Catania geriet die Maschine in Turbulenzen. Der 3350 Meter hohe Ätna hatte sich eingehüllt in Wolken, die tief hinunter bis in die Küstenregion reichten. Kaum waren wir gelandet, begann es zu regnen. Auf den Hängen des Ätna-Gebirges schneite es an diesem Nachmittag bis auf die Linie von 900 Metern, so daß unsere Busfahrt in die Ätna-Region am nächsten Morgen buchstäblich auf 1500 Metern Höhe stecken blieb.
Sizilien im Winter – ein Flop? Keineswegs, denn die Hotels waren fast zu gut geheizt. Außerdem hatten wir einen Tag später die Schlechtwetterfront nahezu vergessen: Die Sonne strahlte, wie sie auf den ungezählten bemalten Keramiken aus Caltagirone zu sehen ist, und sie verwandelte mit ihrem klaren Licht (und den Schattenwürfen) die dicht gebauten Städte, auf den Bergkämmen in regelrechte Skulpturengruppen. Jetzt waren wir richtig angekommen und genossen von unserer Unterkunft aus, die wie die meisten Hotels in Taormina förmlich an den Fels geklebt ist und somit Fernsicht garantiert, den Blick über die Bucht von Naxos.
Und dann endlich gab der Ätna auch den Blick auf seinen schneebedeckten Kegel frei eine ferne winterliche Gestalt. Die ewige Rauchfahne, die über seinen Gipfeln schwebt, macht bewußt, daß immer noch vier Krater dieses Vulkans aktiv sind, daß jederzeit ein neuer Ausbruch möglich ist. Die Menschen rund um den Ätna kümmert’s wenig. Catania, im achten Jahrhundert v. Chr. von den Griechen begründet, wurde dreimal durch Lavaströme und viermal durch Erdbeben zerstört und ist heute eine pulsierende reiche und wegen ihrer Kriminalität berüchtigte Stadt mit 600 000 Einwohnern. Der Ätna fasziniert nicht nur die Touristen (auch Goethe war schon hier), denn schließlich verdanken die in seinem Schatten liegenden Regionen seinen zerfallenen Lavaströmen einen höchst fruchtbaren Boden. Das ist es ja, was uns, die wir aus der wintertrüben Landschaft mit den kahlen Bäumen kommen, so in den Bann schlägt: die Üppigkeit der Natur mit ihren rot und lila blühenden Büschen und ihren endlosen grünen Plantagen, aus denen die Orangen und Mandarinen satt leuchten.
Alles scheint hier das ganze Jahr durch zu gedeihen, und die baumfrischen Früchte schmecken noch mal so gut. Doch wenn wir bewundernd den Plantagenbesitzer darauf ansprechen, dann winkt der ab: Die meisten Orangen fielen vom Baum oder würden vernichtet; sie seien auf dem europäischen Markt nicht absetzbar. Der Kölner Großimporteur Heinrich Schilling bestätigt: Die Deutschen wollten lieber die großen spanischen Navel-Orangen und nicht die kleineren sizilianischen Apfelsinen.
Dafür blüht das Export-Geschäft mit Strauchtomaten und Datteltrauben. Mit Hilfe von Wissenschaftlern aus Witzenhausen (Universität Gesamthochschule Kassel), so erfahren wir in der Region von Agrigent, sei eine Methode entwickelt worden, die Wein auch in extrem trockenen Landschaften so reifen lasse, daß die Trauben bis Februar geerntet werden könnten: Über die Rebstöcke sind Plastikfolien gezogen. Winter? Nein, eine Landschaft im Übergang vom Herbst zum Frühjahr. Wenn nicht in Taormina zwischen blühenden Geranien Tannengirlanden gespannt wären, könnten wir den Weihnachtsmonat glatt vergessen. Vor allem an dem Tag, an dem wir draußen auf der Terrasse der Villa Greta in der Mittagssonne speisen und eine Ahnung davon gewinnen, daß das meiste, was wir an italienischer Küche kennen, mit diesen sizilianischen Köstlichkeiten nicht zu vergleichen ist. Sizilien im Winter ist allerdings nichts für Touristen, die mit einem Badelaken unterm Arm nach Stränden und Pools Ausschau halten. Geheizte Swimmingpools gibt es hier (noch) nicht. Wer im Winter dorthin reist, muß anderes im Sinn haben. Der muß es lieben, durch die engen Straßen und Gassen der alten Dörfer und Städte zu streifen, Treppen rauf- und runterzulaufen, die Mischung aus antiker, mittelalterlicher und barocker Architektur zu genießen und immer wieder die Spuren der Griechen und Römer zu entdecken. Da sich die Touristen in dieser Zeit außerhalb der Saison befinden, erleben sie Sizilien pur. Selbst in einem so beliebten und eleganten Urlaubszentrum wie Taormina bleiben die Fremden in kleiner Zahl. Man erlebt die Sizilianer fast unter sich. Richtig bewußt wird dieser Vorzug erst an den antiken Stätten, die zum Muß einer Rundreise gehören – das griechische Theater in Syrakus etwa, das Tal der Tempel vor der Stadtkulisse von Agrigent (mit den Resten von sieben Tempeln) oder die Villa Romana bei Piazza Armerina mit ihren einzigartigen Mosaiken. Während sich ab April dort die Reisebusse die Parkplätze streitig machen und sich die Besucher durch die Anlagen schieben, können die Wintergäste die antiken Schönheiten fast exklusiv und mit selbstbestimmter Ausdauer betrachten. Nicht nur beim Essen, sondern auch beim Besichtigungsrundgang gewinnt man ein neues Zeitmaß, Ferienstimmung also.

Sizilien ist 25 426 mit Quadratkilometern die größte Mittelmeerinsel; sie hat fünf Millionen Einwohner. Größte Städte: Palermo, Catania und Messina. Zu den besten Reiseführern zählen der Band von APA Guides (Travel Media, Langenscheidt) und Baedekers „Sizilien“. Preisbeispiele: Direktflüge ab Düsseldorf nach Catania bietet LTU jetzt auch im Winter an. Preis: 420 bis 599 Mark; Sammeltransfer nach Taormina: 30 Mark. Doppelzimmer im Vier-Sterne-Hotel Monte Tauro (pro Person): 104-135 Mark. Buchung über THR Tours. Eine Rundreise für fünf Tage über die ganze Insel (Vollpension) sowie neun Tage Aufenthalt in Taormina (Halbpension) kosten mit Flug und Unterbringung in DreiSterne-Hotels 1379 bis 1499 Mark pro Person (Tjaereborg). Will man die 5-Tage-Rundreise (Vollpension) mit nur zwei Tagen Taormina (Halbpension), zahlt man mit Flug bei Transair 1078 bis 1258 Mark. Der Flug mit Mietwagen für eine Woche (bei 2-er Belegung) kostet pro Person 726 bis 867 Mark; die Verlängerungswoche: 204 Mark (Anbieter: Jahn-Reisen). Beim selben Veranstalter gibt es eine Woche Halbpension in der Villa Greta (zwei Sterne) inclusive Flug für 843 bis 984 Mark; für den Verlängerungstag zahlt man 38 Mark. Beide genannten Hotels in Taormina zeichnen sich durch hervorragende Lage (Meerblick) und Küche aus. Die Preise für den Sommer liegen im Schnitt um 20 Prozent höher.
HNA 29. 12. 1996

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