Der Hang zur Symmetrie

Um sich in der Welt zu orientieren, sucht sich der Mensch Anhaltspunkte. Dabei hilft und verwirrt in gleichem Maße eine Form, die sich verdoppelt, die spiegelbildlich noch einmal da ist. Das Zauberwort heißt Symmetrie – Ebenmaß. In der Natur kommt die Symmetrie vor und in so gut wie allen Zeiten und Kulturen wurde sie von den Menschen gepflegt. In Darmstadt ist man nun mit außerordentlicher Gründlichkeit diesem universellen Gestaltungsprinzip nachgegangen. Dabei ist ein fast einmaliges Panorama entstanden, das zwischen Kunst und Wissenschaft vermittelt.

In allen Zeiten träumten Baumeister davon, von Grund auf so etwas wie die ideale Stadt bauen zu können. Dabei wurden immer wieder symmetrische Lösungen vorgeschlagen, die als Ausdruck klarer Ordnung weithin erkannt werden sollten. Militärische Lager dienten vielfach als Vorbilder. Diese Idealentwürfe wurden für das legendäre Atlantis ebenso erdacht wie für die Baupläne der Barockzeit oder des Jugendstils.

Der Hang zur Symmetrie war immer dort besonders ausgeprägt, wo es um die Demonstration von Macht ging. Und so ist es kein Wunder, daß die Faschisten mit ihren Aufmärschen in symmetrischer Ordnung und ihren hochfliegenden Bauplänen für einige Zeit das Symmetrie-Prinzip in Verruf brachten. In den 50er Jahren liebte man vor allem die Formen, die sich nicht spiegelbildlich verdoppelten. Darmstadt, das von dem Hochzeitsturm mit seiner symmetrischen Kuppel überragt wird, hat sich in einem beispiellosen Kraftakt dem Natur- und Kulturphänomen Symmetrie genähert.

Das Unternehmen ist weitaus umfassender und fundierter angelegt als die große Jugendstilausstellung am selben Platz vor zehn Jahren. Was allein auf den rund 1 000 Seiten der beiden Kataloge (70 Mark) an Erkenntnissen, Einsichten und Theorien zusammengetragen ist, scheint Antworten auf alle Fragen zu geben, die sich bei der Untersuchung symmetrischer Erscheinungen stellen. Fachautoren setzen sich mit den Problemen der Wahrnehmungsfähigkeit, kristallinen Strukturen, Körperformen der Tiere (Schmetterlinge, Muscheln, Krebse), philosophischen Grundhaltungen, Glaubenssätzen und architektonischen sowie künstlerischen Prinzipien auseinander. In den Ausstellungshallen Mathildenhöhe kann der Besucher ganz anschaulich erfahren, wie vielfältig die Erscheinungsformen der Symmetrie sind. Zuerst wird der Blick auf die Natur gelenkt, auf Tiere, Kristalle und auf all die periodisch wiederkehrenden Formen.

Man erfährt aber auch, daß die regelmäßigen geometrischen Körper, die nicht nur symmetrisch angelegt sind,
sondern auch von allen Seiten gleich sind, keineswegs erst seit Piatons Zeiten bekannt sind, sondern bereits in weit älteren Kulturen konstruiert wurden. Warum aber dieses ewige Streben nach Gleichklang und Verdoppelung? Vielleicht ist dieser Drang auch dadurch zu erklären, daß das, was symmetrisch gemeint ist, doch nicht genau spiegelbildlich ist. Beispielsweise das menschliche Gesicht. Gerade die vielfältigen Abweichungen von der Symmetrie sind die Voraussetzungen für das Charakteristische; die exakte Verdoppelung einer Gesichtshälfte kann da leicht zum faden Ebenmaß werden. Trotzdem ist durch die Jahrtausende zu beobachten, wie immer wieder Maler und Bildhauer auf der Suche nach der idealen Schönheit auch das symmetrische Porträt anstrebten.

In dem breit angelegten Panorama der Kunst – von den archaischen Werken aus Afrika Und Amerika über die griechische und ägyptische Kunst bis hin zu den Bildern der Gegenwart – wird auch dem Porträt ausgiebig Raum gewidmet, wobei aus unserer Zeit vor allem Ferdinand Hodlers Selbstbildnis hervorsticht, weil in ihm der Maler die Symmetrie zu verwirklichen suchte. Spannender als die Frage aber, ob ein Gemälde streng symmetrisch durchkonstruiert ist, erscheint die Erfahrung, daß mit Hilfe dieser Gesamtuntersuchung der Besucher Zugang zu den Geheimnissen der Komposition findet. Im übrigen zeigt sich, daß die spiegelbildliche Gestaltung das Bedürfnis nach Schönheit dann am stärksten befriedigt, wenn die eine Seite eben doch nicht der genaue Abklatsch der anderen ist. Erst die kleine Abweichung schafft lebendige Schönheit.

Am nachhaltigsten aber wirkt das Erlebnis, daß über alle Zeit- und Kulturgrenzen hinweg die Menschen immer wieder gleichen oder ähnlichen Schönheits-Vorstellungen und Gestaltungs-Prinzipien nachhingen. Von Fortschritt will da niemand mehr reden. Insofern gibt es in dieser Ausstellung mancherlei Berührungspunkte mit der anderen großen Schau dieses Sommers, die sich ebenfalls mit Kunst und Wissenschaft beschäftigt – mit der Biennale in Venedig.

HNA 9. 8. 1986

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