Die erste Ausstellung progressiver deutscher Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg, im Oktober 1945 in Überlingen gezeigt, wurde teilweise rekonstruiert und ist in Fulda zu sehen.
Die Stunde Null war gerade vorüber. Deutschland lag in Trümmern, die Versorgung klappte kaum, und Transportmittel gab es auch nicht. Keine Zeit für hochfliegende Pläne, aber doch eine Zeit des kulturellen Aufbruchs. Denn das Kriegsende hatte ja auch die geistige Wende ermöglicht, die ersten Lichtblicke nach einer dunklen Zeit, in der jede Form progressiver Literatur, Musik und Kunst verfemt und verfolgt worden war. Nun konnten die Menschen endlich wieder lesen, sehen und hören, was ihnen die Nationalsozialisten verboten hatten. Doch wer hatte Zeit, Geld und Kraft, sich um die Kunst zu kümmern, da es kaum politische Strukturen gab, da Millionen auf der Flucht und die meisten mit dem Überlebenskampf beschäftigt waren? Es gab aber diese, wie es heute scheint, Insel der Seligen: Im Oktober 1945 wurde in Überlingen am Bodensee die Ausstellung „Deutsche Kunst unserer Zeit“ gezeigt, die erstmals einen Überblick über jene deutsche Kunst ermöglichte, die in der Nazi-Zeit als entartet gegolten hatte. Die Ausstellung war ein Meilenstein. Trotzdem machte sie nur wenig Schlagzeilen, weil die Reisemöglichkeiten beschränkt waren und die Schau außerhalb des südwestdeutschen Raumes kaum wahrgenommen wurde. Erst jetzt, da
sie in Erinnerung an den gelungenen Anfang vor 50 Jahren rekonstruiert wurde, bekommt sie die Aufmerksamkeit, die ihr zusteht. Natürlich fragt jeder: Warum passierte das ausgerechnet in Überlingen am Bodensee. Die Antwort ist simpel: Weil im entscheidenden Moment die richtigen Leute zusammenkamen.
Insofern ist heute die Entstehungsgeschichte fast spannender als die Ausstellung selbst. Das Projekt wäre kaum in die Gänge gekommen, wäre nicht Überlingen Teil der französischen Besatzungszone gewesen und hätten die Franzosen nicht die Kulturvermittlung zu einem Instrument ihrer Umerziehungspolitik der Deutschen gemacht. Die Bemühungen um eine solche Ausstellung konnten aber nur gelingen, weil sich rund um den Bodensee zahlreiche Kunstsammler und Künstler (Erich Heckel, Max Ackermann, Julius Bissier) angesiedelt hatten, auf deren Besitz die Organisatoren zurückgreifen konnten.
Entscheidend aber für das Gelingen war, daß zum Ausstellungsleiter Walter Kaesbach wurde, den die Nazis 1933 als Direktor der Düsseldorfer Kunstakademie vertrieben hatten. Kaesbach hatte, 1920 von der Berliner Nationalgalerie kommend, wesentlich zum Aufbau einer Sammlung der Moderne am Erfurter Angermuseum beigetragen. Eine alles in allem glückliche Konstellation also. Die Ausstellung versammelte die Namen und Werke, die uns heute gut und teuer sind: Barlach und Baumeister waren vertreten, Feininger und Hekkel, Kandinsky und Marc, Nolde und Schlemmer und viele mehr. Es waren nicht unbedingt die Meisterwerke, sondern oft gerade das, was zufällig da war. Wenn man aber heute die für Überlingen zum 50. Jahrestag rekonstruierte und vom Fuldaer Vonderau-Museum übernommene Ausstellung sieht, dann gewinnt man ein plastisches Bild von den Energien und Strömungen deutscher Kunst im 20, Jahrhundert und von ihrem Dialog mit der internationalen Kunstszene. Keine Meisterwerke also im klassischen Sinne, aber unter den gegebenen Bedingungen eine Schau auf bestem Niveau.
HNA 30. 11. 1995