Das Gesetz der Masse

Der Erfolg der MoMa-Ausstellung

Aus der Sowjetzeit ist in vielen Variationen eine Anekdote über das Anstehen überliefert: Da sich vor einem Geschäft eine lange Schlange gebildet hat, stellen sich sofort weitere Passanten an. Und während sie sich im Warten üben, versuchen sie von den Menschen vor ihnen zu erfahren, wofür denn alle anstehen. Nun soll nicht unterstellt werden, diejenigen, die zwei, vier oder gar zehn Stunden vor der Neuen Nationalgalerie in Berlin angestanden haben, um die 200 Werke aus dem New Yorker Museum of Modern Art zu sehen, hätten nicht geahnt, warum sie sich eingereiht hatten. Nein, alle wussten, dass es um Meisterwerke der modernen Kunst ging. Doch manche Gespräche vor den Bildern ließen darauf schließen, dass viele Besucher nicht gekommen waren, um legendäre Werke aus dem fernen New York zu erleben, sondern um endlich einmal die Kunst des 20. Jahrhunderts zu sehen.

Ganz gleich, welches Motiv die rund 1,1 Millionen Menschen hatten, sich in das Kunstgetümmel zu stürzen das Konzept der Veranstalter ging auf. Obwohl das Berliner Kulturforum, zu dem die Neue Nationalgalerie gehört, darunter leidet, dass die Museumsinsel der größere Besuchermagnet ist, hat die „Moma „-Ausstellung es geschafft, sich im Ausstellungsreigen als das Ereignis zu platzieren, an dem keiner vorübergehen kann, wenn er behauptet, sich für Kunst zu interessieren. Dahinter steht ein einmaliger Marketing-Erfolg. Denn so qualitätsvoll auch die Sammlung des New Yorker Museums ist – so wenig war hier zuvor das „Moma“ eine Marke. Es lohnt sich zu untersuchen, durch welche Maßnahmen und Umstände es gelang, diese Strahlkraft zu entwickeln. Das allerdings gilt nur für den ersten Teil der Ausstellungszeit. Für den zweiten Teil brauchte man nicht viel zu tun. Da funktionierte das Gesetz der Masse von selbst. Denn wenn sich erst einmal herumgesprochen hat, dass man etwas gesehen haben muss, und dass es gar nicht so einfach ist, an das Objekt der Begierde heranzukommen, dann vergrößert sich der Zustrom wie von selbst. Ausstellungen wie die Kasseler documenta profitierten ebenfalls davon. Denn selbst in den Jahren, in denen Teile der Kritik und viele Besucher enttäuscht von dem Angebot waren, blieb die Ausstellung ein Publikumsmagnet: Man musste dabei gewesen sein. In Berlin nahm der Andrang groteske Formen an. Zuletzt wurden im Internet die
Wartezeiten wie Wasserstandsmeldungen bei einer Flutkatastrophe ständig aktualisiert. Die Besucherzahl stellt alles in den Schatten, was die moderne Kunst angeht. War die Ausstellung denn so einmalig? Nein, das war sie bei aller Hochklassigkeit nicht. Deshalb fragen viele Kuratoren, die Vergleichbares ermöglichten, warum ihnen nicht ein annähernder Erfolg beschieden worden sei. Trotzdem hat die Kunst gewonnen. Es wurden unzählige Menschen erstmals an die Moderne herangeführt und vielleicht auch von ihr überzeugt. Denjenigen jedoch, die diese Werke gern gesehen hätten, aber die nicht anstehen wollten oder konnten, sei gesagt, dass sie bei Ausflügen ins Kölner Museum Ludwig und in die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf Ähnliches sehen können.
Hintergrund
In Deutschland besuchen im Schnitt 110 Millionen Menschen Ausstellungen und Museen. Das heißt: Die „Moma“Schau konnte ein Prozent aller Jahresbesucher für sich gewinnen. Zum Vergleich: Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden konnten 2003 rund 1,5 Millionen Besucher anlocken. Unter den Ausstellungen für zeitgenössische Kunst war bisher die Kasseler documenta führend. Die Ausstellung von 2002 zog 650000 Besucher an.

HNA 17. 9. 2004

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