Die Kunst als Spiegel des Körpers

In einer Zeit, in der Verletzlichkeit und Gefährdung des Menschen und seiner von ihm geschaffenen Ordnungen immer bewußter wird und in der gleichzeitig mit dem Siegeszug der elektronischen Bilder die menschliche Gestalt zur bloßen Erscheinung wird, ist die Rückbesinnung auf das Verhältnis der Kunst zur menschlichen Figur ein guter Rahmen für die Bilanzierung von 100 Jahren Kunst. Die Biennale in Venedig nimmt ihr Jubiläum zum Anlaß für eine gründliche thematische Aufarbeitung. Das ist verdienstvoll und ermöglicht eine inhaltlich wie kunsthistorisch facettenreiche Schau, hat nur zur Folge, daß die zentrale Aufgabe, die Spiegelung der gegenwärtigen Kunst, zu kurz gerät. Besonders schmerzlich wird das dadurch, daß gleichzeitig auf die 1980 begründete Abteilung „Apertos“ verzichtet wurde, in der meist in alten Magazinräumen die Werke jüngerer Künstler ausgestellt wurden.
Historische Schau Also: Zurück in die Geschichte. Durch die historische Schau unter dem Titel „Identitä e alterita“ (Identität und Anderssein) wird der Palazzo Grassi am Canal Grande zum zweiten wichtigen Zentrum neben dem Ausstellungspark, den Giardini. Zwar greift die Ausstellung viel weiter aus als die gerade in der Frankfurter Schirn Kunsthalle eröffnete Schau „Okkultismus und Avantgarde“, doch gibt es überraschend viele Berührungspunkte (bis hin zur Werkauswahl: Arnold Schönberg als Avantgardemaler). Fundamental unterschieden sind aber die theoretischen Ansätze. Während in Frankfurt die verborgenen „okulten“ Wurzeln der Moderne erstmals systematisch freigelegt werden, bekräftigt die venezianische Schau den wohlbekannten Denkansatz, daß die Kunst um die Jahrhundertwende parallel zur Wissenschaft begonnen habe, den Menschen aus seiner Umwelt herauszulösen, ihn zu vermessen, die menschliche Gestalt zu zergliedern und damit gleichzeitig das heile, unbewegte Bild zu zerbrechen.
Kunst und Forschung Vor allem durch die Einbeziehung der frühen wissenschaftlichen und kriminalistischen Fotografie wird eine spannende Beziehung zwischen den Ausbruchsversuchen der Künstler und den Forschungsergebnissen hergestellt. Die Ausstellung mit dem Untertitel „Die Formen des
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fc* Drei deutsche Künstler präsentieren auf der 46. Kunstbiennale in Venedig eigens dafür geschaffene Werke. Martin Honert installierte das Plastikrelief „Das fliegende Klassenzimmer“ nach dem Roman von Erich Kästner. (Foto: dpa)
Körpers 1895-1995″ ist wohl thematisch und zeitlich klar gegliedert, doch ist die Verteilung der Arbeiten auf die verschiedenen Räume nicht immer nachzuvollziehen.
Trotzdem ist eine – vor allem in ihrem ersten Drittel – großartige Ausstellung entstanden, die einen Bogen von Edvard Munch über die italienischen Futuristen und Picasso, über Lovis Corinth und die Surrealisten bis hin zu heutigen Künstlern wie Arnulf Rainer, Georg Baselitz und Robert Rauschenberg schlägt. Zwei Aspekte sind besonders faszinierend: die Selbstporträtreihen einzelner Künstler wie Edvard Munch, Max Beckmann und Helene Schjerfbeck sowie die Versuche der Maler und Bildhauer, den Menschen in seiner Bewegung faßbar zu machen und ihn in seiner geistigseelischen Dimension zu spiegeln. Da sich die Kunst der Nachkriegszeit nur in Randzonen mit der Figur auseinandergesetzt hat, dünnt die Ausstellung zur Gegenwart hin aus. Lie-. benswerte Außenseiterinnen des Kunstbetriebs wie die Holländerin Marlene Dumas werden unter solchen Bedingungen zu Leitfiguren.
Das bringt eine solche thematische Eingrenzung mit sich. Die Ausstellung, die sich aus Platzgründen in dem Museo Correr (San Marco) und im zentralen Pavillon der Giardini fortsetzt, kann auch da nicht besonders überzeugen, wo sie Ausblicke in die heutige Video- und Computerkunst gibt. Der virtuelle Mensch, so zeigt sich, ist ein technisches, bisher aber nur in Ausnahmefällen ein überzeugend künstlerisches Problem. Eine herausragende Ausnahme bildet in der aktuellen Abteilung Stephan von Huenes Installation, in der vier männliche
Unterkörper (in Schuhen und Hosen) als ein mechanisches Ballett zu Politikerreden und Musik im Takt treten und tanzen. Da ist der Mensch zum Automaten verkommen, der sich dem vorgegebenen Rhythmus nicht entziehen kann, der seine Identität verloren hat.
Daneben gibt es zwei andere Rückschauen. Die eine dokumentiert 100 Jahre italienische Porträtfotografie, eröffnet aber nicht die Dimension, die einem solchen Anlaß angemessen ist. Die andere hat ihren Schwerpunkt im Dogenpalast und bemüht sich, an Hand ausgewählter Beispiele aufzuzeigen, welche Kunst die Biennale im Laufe der Zeit vorgestellt hat („Venedig und die Biennale“). Nicht nur aus technischen und finanziellen Gründen kann diese an sich bemerkenswerte Schau gar nicht den Versuch unternehmen, nachzuweisen, ob sie sich mit ihrer Auswahl auch immer auf der Höhe der Zeit befand. Auch ist die italienische Perspektive übermächtig. Durch die italienische Kunst seit den 20er Jahren entsteht der Eindruck, die Moderne sei nur eine Modeerscheinung, dagegen sei dieses Jahrhundert durch realistische, magische und metaphysische Kunst (bis hin zum Kitsch) geprägt. Dieses Bild setzt sich in erstaunlicher Weise im italienischen Pavillon mit zeitgenössischer Kunst fort. Die Gegenwart erscheint als rückwärtsgewandt, mit einem Hang zum Kitsch. Während die Kasseler documenta bewußt darauf verzichtet hat, Künstler nach nationalen Gesichtspunkten zu präsentieren, bilden in Venedig die nationalen Beiträge das Rückgrat der Ausstellung. Das bereitet den Boden für kulturpolitische Machtdemonstrationen, wie der erstmalige, lärmende Auftritt von Korea und Taiwan auf der Biennale zeigt. Gehörte beim vorigen Mal der deutsche Pavillon mit den Beiträgen von Hans Haacke und Nam June Paik zu den besten der ganzen Biennale, enttäuscht er in diesem Jahr. Katharina Fritsch schuf für den zentralen Raum eine weihevoll kühle Installation (zwischen stilisierten schwarzen Bäumen auf einem Podest ein achteckiges Idealmuseum). Noch weniger kann Martin Honerts realistisch-witzige Figurengruppe gefallen, in die gedanklich zu viel hineingepackt ist. Am besten wirken da noch Thomas Ruffs große Schwarz-Weiß-Fotos, in denen zwei Porträts zu einem Phantombild verschmolzen werden. Faszinierend sind hingegen die Installationen der USA (Bill Viola, der auch bei der vorigen documenta mit Video-Arbeiten gefiel), Polens (Roman Opalka), der Schweiz (Fischli/Weiss) und Brasiliens.
Gleich mehrere Nationen nutzen die Biennale, um symbolisch, also künstlerisch ihre Pavillons umzubauen: Israel, Japan, Griechenland und vor allem Österreich, das seinen Pavillon mit der sehr prägenden Architektur in und unter den Künstlerbeiträgen verschwinden läßt. Liebenswert und heiter ist schließlich der Potemkische Pavillon, den Bert Theis für Luxemburg schuf.

HNA 10. 6. 1995

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