Im vorigen Jahr feierte der Maler Jean Dubuffet einen späten Triumph: Der französische Pavillon auf der Biennale von Venedig war ausschließlich seinen wenigen Monate zuvor entstandenen Bildern geöffnet worden. So sehr im ersten Moment diese Rückbesinnung auf den umstrittenen Altmeister überraschen mochte, so unmittelbar erfrischend war dann die Wirkung der farbintensiven Malerei.
Im Zentrum hing ein mehrteiliges, acht Meter breites Bild in den französischen Nationalfarben Blau-Weiß-Rot. Es bestand aus einem Dickicht von Linien, die sich mal zu Flecken verdichteten und dann wieder recht willkürlich über die Fläche fuhren – die sich selbst überlassene Malerei feierte ihrej Freiheit. Die Verbeugung Frankreichs vor Dubuffet war eben doch mehr als eine noble Geste; sie verschaffte Zugang zu einem Aterswerk, mit dem eine sehr eigene Antwort auf die junge wilde Malerei gegeben wurde. Er selbst war vielleicht einer der wildesten Maler überhaupt. Hatten sich die bahnbrechenden Künstler zu Anfang des Jahrhunderts der Bildsprache der Naturvölker und der Kinder angenommen, um wieder den Zugang zum Ursprünglichen zu gewinnen, so ging Jean Dubuffet in den 40er Jahren noch einen Schritt weiter: Er entdeckte in der Kunst der Geisteskranken und der Außenseiter ein solches Ausdruckspotential, daß er sich für einige Zeit ganz gegen die traditionelle Kunst entschied. Er riß die letzten Schranken nieder und lenkte mit beispielhafter Konsequenz den Blick der Öffentlichkeit auf die unverbildete, die rohe Kunst (Art brut). Die Erkenntnis hatte sich bei ihm nicht über Nacht eingestellt. Jean Dubuffet, 1901 als Sohn eines Weingroßhändlers geboren, hatte bereits als 17jähriger einen Anlauf unternommen, Künstler zu werden. Doch je mehr er in die Materie eindrang, desto klarer wurde für ihn, daß er im normalen Kunstbetrieb nicht seine Heimat habe. Zweimal wechselte er zwischen Künstlertum und dem bürgerlichen Dasein als Weinhändler, bevor er sich als 41 jähriger endgültig für die Kunst entschied. Dubuffets Hinwendung zur Bildnerei der Außerseiter ließ im Laufe der Jahre eine Sammlung von rund 5 000 Werken entstehen, die er 1971 der Stadt Lausanne schenkte. Das aber war nur die eine Seite. Die andere prägte sein eigenes Schaffen: Er entdeckte für seine Malerei die rohen, die primitiven Materialien – Teer, Sand, Leim, Splitt, Kitt, Scherben und Nägel. In dicke, reliefartige Bildgründe ritzte er naive, perspektivlose Umrißzeichnungen ein. Die primitiven Kritzeleien auf Hauswänden fanden hier ihr künstlerisches Echo. In den ersten Ausstellungen erregten Dubuffets Bilder mehr Protest als Bewunderung. Geschult durch seine und seiner Nachfolger Arbeiten, empfinden wir heute einen Teil seiner Bilder als Schlüssel zu einer neuen Empfindsamkeit. Dubuffet war ein ungemein produktiver Künstler, der im Laufe der Jahre von dem Kunstbetrieb aufgesogen wurde. 1962 begann er unter dem Namen „L’Hourloupe“ für seine Bilder und Objekte eine heitere, abstrakte Zeichenschrift zu entwickeln, ein grafisches Linienmuster, das unberechenbar Flächen und Körper in ungleichmäßige Felder unterteilte. Diese wuchernde Liniensprache sollte vor allem für seine zahlreichen Großplastiken und plastischen Landschaften aus Polyester und Email Signalcharakter gewinnen. Aber auch diese gezähmten, schönen Plastiken riefen immer wieder Widerstände hervor. Um die Erhaltung und Fertigstellung einer solchen Landschaft für Renault mußte er acht Jahre kämpfen. Jean Dubuffet erlag jetzt im Alter von 83 Jahren einem Herzversagen.
16. 5. 1988
Die Entdeckung des Primitiven
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