Ein Maler der ganzen Wahrheit

Der aus Gera stammende Maler Otto Dix ist neu zu entdecken. Heute wäre er 100 Jahre alt geworden.
Zum 75. Geburtstag von Otto Dix hieß es bedauernd in einer westdeutschen Würdigung, der aus Gera stammende Maler lebe am Bodensee „fast vergessen, in weiter Ferne jedenfalls von den meist faden Brennpunkten unserer Kunstöffentlichkeit“. Lediglich in „Mitteldeutschland“ werde ihm die Ehre großer Ausstellungen zuteil. Wie konnte es dazu kommen? In Westdeutschland standen in den ersten zwei, drei Jahrzehnten die Spielarten des Realismus nicht hoch im Kurs. Auch ein Maler wie Dix schien von der Kunstentwicklung überholt zu sein. In der früheren DDR hingegen wurde Dix, den die Nationalsozialisten mit Berufsverbot belegt hatten, als Antifaschist gefeiert und als ein Maler gegen Krieg und Gewalt. Wer denn sonst auch hatte im 20. Jahrhundert das Grauen des Krieges und den Albtraum Hitler so eindringlich und sarkastisch ins Bild gebracht?

Die Wertschätzung und Vereinnahmung von Dix durch die DDR-Kunstpolitik übte übrigens einen bis heute spürbaren Einfluß auf Themenwahl und Malstil ostdeutscher Künstler aus. Zum 100. Geburtstag von Dix hat sich die Szene total geändert. Ost- und Westdeutsche ehren und feiern jetzt nicht nur gemeinsam, sondern längst ist Dix auch im Westen zu Ruhm und Ehren gekommen. Ausstellungen in Friedrichshafen, Stuttgart, Berlin und Dresden stellen den Maler und Grafiker in seiner ganzen Schaffensbreite vor. Ein besonderes Denkmal konnte dem Maler seine Heimatstadt Gera setzen: Rechtzeitig zum 100. Geburtstag wurde das Geburtshaus von Dix rekonstruiert und (durch einen Anbau ergänzt) als DixMuseum und -Gedenkstätte eröffnet.

Hier soll man die Familie und das keinbürgerlich-proletarische Milieu, aus dem Dix stammt, kennenlernen, und hier soll man auch Gemälde, Zeichnungen, Grafiken, Skizzenbücher und Feldpostkarten von ihm studieren können. Hat Dix jetzt also den Platz in der Kunstgeschichte erhalten, der ihm zusteht? Noch nicht ganz, denn das Bild des Künstlers ist immer noch verzerrt. Gewiß war Otto Dix nicht so unpolitisch gewesen, wie ihn Otto Conzelmann in seinem Buch „Der andere Dix“ dargestellt hat, doch ebenso falsch sind wohl alle Versuche, den Maler, der in Düsseldorf, Dresden und Berlin wirkte, als den großen Sozialkritiker und Pazifisten zu vereinnahmen. Natürlich war Dix von den Schrecken des Krieges so stark geprägt, daß er es ungeschminkt in die Malerei umsetzte.

Doch genauso war er von der anderen Seite des Lebens fasziniert, von Lust und Liebe. Und immer wieder stand er im Banne der Beobachtung, wie nah Schönheit und Schrecken, erotische Spannung und abscheuliche Grausamkeit beieinanderliegen. Otto Dix war ein Maler des vollen Lebens, der ganzen Wahrheit. Wo sich andere in Andeutungen oder Symbole flüchteten, stürzte er sich in die Widersprüchlichkei des Lebens hinein. Er wollte nicht anklagen oder moralisieren, sondern abbilden und aufzeigen, die Dinge auf den Punkt bringen. Dabei wandelte sich sein malerischer Stil im Laufe seines Lebens nachhaltig. Anfangs hatte er stark unter dem Einfluß von Expressionismus und Dada-Bewegung gestanden. Als er in der zweiten Hälfte seine großen Gemälde und Porträts schuf, hatte er seine unverwechselbare Handschrift zwischen Neuer Sachlichkeit und Expressionismus gefunden. Zuletzt, in den Jahren bis zu seinem, Tod (1969), war er zu einem vereinfachenden, nachexpressionistischem Stil zurückgekehrt.
HNA 2. 12. 1991

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