Zeichen in der Stadt

Mühsam hat sich die Kunst in unserem Jahrhundert aus den überlieferten Funktionszuweisungen gelöst. Sie hat sich befreit. Daraus folgte aber, daß die Gesellschaft sie aus der Verantwortung entließ. Vor allem die plastischen Arbeiten verkamen oft zu dekorativen Werken, die austauschbar wurden. Der Kunstsommer dieses Jahres markiert im Umgang mit der Skulptur im öffentlichen Raum eine deutliche Wende. Was der Berliner Skulpturenboulevard nur in Ansätzen formulierte, wird nun in zwei zentralen Ausstellungen unübersehbar: Die Künstler reisen nicht mehr mit fertigen Arbeiten durch die Lande und hinterlassen sie als willkürliche Zeichen, sondern sie suchen den Dialog mit der Stadt, bevor sie an einen Entwurf gehen.

Sie antworten auf geschichtliche Daten und architektonische Eigenheiten, sie bringen die Kunst in die Verantwortung zurück und lassen die Skulptur zum Reflektor der Gegebenheiten und der Probleme des Ortes werden, für den sie geschaffen wird. Die Kasseler documenta 8 ist das eine Unternehmen, das den Beweis dafür erbringt – selbst da noch, wo das Projekt (wie im Fall von George Trakas‘ Arbeit für den Königsplatz) gescheitert ist. Das andere ist die parallel zur documenta inszenierte Kunstschau „Skulptur Projekte Münster“, zu der 64 internationale Künstler in die westfälische Universitätsstadt eingeladen wurden.

Während die documenta 8 die Außenarbeiten sehr dicht um ihre Ausstellungszentren versammelt, sie dort mit großer Geste in Szene setzt und so unübersehbar werden läßt, breitet sich in Münster die Skulpturenschau über das gesamte Stadtgebiet aus, sie taucht ein, gibt sich eher bescheiden und unauffällig, belegt auch entlegene Plätze und Hinterhöfe. Gleichzeitig ist das Spektrum in Münster breiter angelegt. Das ergibt sich nicht nur aus der Künstler-Zahl, sondern auch aus dem Zeitraum: Die Skulpturenschau in Münster knüpft an
jene Ausstellung von vor zehn Jahren an, die eine Bilanz der Entwicklung der Skulptur in diesem Jahrhundert zog und nur mit einigen wenigen Arbeiten in den städtischen Raum ging.

Klaus Bußmann und Kasper König waren 1977 verantwortlich und haben auch das diesjährige Projekt mit großer Sorgfalt auf den Weg gebracht. Sie haben die Künstler zu vielfältigen Plänen und Entwürfen beflügeln können. Allein die Ausstellung der Studien und Modelle im Westfälischen Landesmuseum, die nicht nur die realisierten, sondern auch die verworfenen Projekte dokumentiert, ist ein Ereignis. Sie bildet einen reichen Fundus für die Stadtplaner und ist zugleich ein Zeugnis des bildhauerischen Denkens in unserer Zeit. Der Versuch liegt nahe, documenta und die Schau in Münster zu vergleichen.

Beide Veranstaltungen argumentieren auf dem gleichen Niveau, zum Teil mit denselben Namen. Während in Kassel aber die Außenplastik auf einige stark akzentuierte Beiträge konzentriert wird, dokumentiert Münster mehr die Vielfalt; und während in Kassel Oper inszeniert wird, führt man in Münster eher Kammermusik vor. Wer sich über die Möglichkeiten der Skulptur in Stadt und Park orientieren will, muß beide Projekte erleben.
Auch in Münster gibt es neben dem ausführlichen Katalog (410 S., 40 DM) einen hilfreichen Führer (142 S., 10 DM), den man samt der eingelegten Karte braucht, um an alle Beiträge heranzukommen. Am besten kommt man zurecht, wenn man die im Museum eingerichtete Fahrrad-Vermietung in Anspruch nimmt; dann kann man die Ausstellung er-fahren.

Man fährt durch die leichten Streifen-Tore von Daniel Buren, kommt an dem ironischen Kirschendenkmal von Thomas Schütte vorbei, das auf die Verplanung eines Platzes verweist, und man übersieht möglicherweise das feine Relief von Richard Tuttle, das die Hauswand in einer Seitengasse ziert. Die Skulptur hat sich eingepaßt. Selbst Richard Serras Stahlplastik gerät angesichts eines Barock-Gebäudes zur harmonischen Form – zwei leicht geneigte Halbschalen, die zusammen eine Ellipse bilden und so in zwingender Weise die Sprache der Architektur aufnehmen. Eine seiner schönsten Arbeiten überhaupt. Sol LeWitt läßt im Botanischen Garten eine weiße Pyramide poetisch erstrahlen, während Ludger Gerdes weit draußen vor der Stadt die Träume auf einem großen Schiff aus Stein und Gras davonsegeln läßt. Ebenso gut gibt es Elemente der Irritation. Die Zeichen in der Stadt wollen verstanden werden.

31. 7. 1987

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