In der Geschicklichkeit gefehlet

Die Bergparkanlage und der Herkules: Achtes Weltwunder und baufällig von Anfang an

Geschichte und Natur sollten eins werden

Schon 1696 hatte Landgraf Karl auf dem Berghang, auf dem der Herkules steht, Arbeiten an einem Wassersammelbecken (Alter Winterkasten) beginnen lassen. Aber das Projekt blieb liegen, weil der Fürst, der sich für die Antike begeisterte, nach Italien reisen wollte, um neue Eindrücke zu gewinnen. Im Februar 1700 traf er in Rom Giovanni Francesco Guerniero (1665 – 1745), den er ein Jahr später in Kassel unter Vertrag nahm. Guerniero erhielt den Auftrag, am Hang des Habichtswaldes eine barocke Parkanlage zu schaffen, deren Mittelpunkt Wasserspiele bilden sollten. Der Künstler und Baumeister entwarf eine Anlage,
die von einem offenen, unbewohnbaren Oktogonschloss auf dem Berg bekrönt werden sollte. Die darunter angelegten Kaskaden sollten sich in drei Abschnitten entwickeln und kurz vor dem neu zu bauenden Schloss Weißenstein enden. Wäre die Anlage gebaut worden, hätten die Kaskaden bis zum heutigen Fontänenteich oder darüber hinaus gereicht.

Es wurde aber nur ein Drittel des Plans verwirklicht. Allerdings fehlt den Entwürfen von Guerniero noch die markante Zuspitzung. Die Pyramide und den monumentalen Herkules hatte er ursprünglich nicht vorgesehen. In der Gemäldegalerie im Schloss Wilhelmshöhe kann man an gemalten Visionen von Jan van Nickelen studieren, welche Dimensionen die Anlage hätte gewinnen können. Auch der Schlossneubau kam (aus Geldmangel) nicht zustande, weil Landgraf Karl gleichzeitig die Orangerie erbauen ließ. Der rund um die Kaskaden angelegte Park hatte eine strenge barocke, also künstliche Gestalt. Die Landgrafen Friedrich II. und Wilhelm IX. rührten die barocke Achse nicht an, sie wandelten den Park aber nach englischen Vorbildern in eine natürlich scheinende Landschaft um, in die sie antik wirkende Bauten (Vergil-Grab, Pyramide) setzen ließen. Die aus dem romantischen Geist entsprungene Löwenburg kam hinzu, und die Wasserspiele wurden im Park beträchtlich erweitert (Aquädukt). Geschichte und Natur sollten eins werden.

Für einige Reisende des 18. und 19. Jahrhunderts waren der Bergpark Wilhelmshöhe und das Oktogon mit dem Herkules eine Sensation. Die Schriftstellerin Johanna Schopenhauer gar schrieb 1787 von dem „achten Wunder der Welt“. Auch Georg Dehio, der im 20. Jahrhundert die maßgeblichen Handbücher für die Kunstdenkmäler verfasste, schwärmte: Die von dem italienischen Architekten Giovanni Francesco Guerniero gestaltete Anlage sei „vielleicht das Grandioseste, was irgendwo der Barock in Verbindung von Architektur und Landschaft gewagt hat“.

Die Kühnheit des 1701 begonnenen Projekts ist aus heutiger Sicht kaum vorstellbar. Denn zu jener Zeit lag Kassel noch Kilometer von der Wilhelmshöhe entfernt, die damals noch Karlsberg genannt wurde. An dem Berghang stand lediglich das Jagdschloss Weißenstein, das an Stelle einer Klosteranlage gebaut worden war. Ansonsten war die Gegend bewaldet. Durch das Bergpark-Projekt wurde nicht nur ein gewaltiges, weithin sichtbares Bauwerk geschaffen, sondern wurde auch eine vom Herkules über die Kaskaden und die spätere Wilhelmshöher Allee Achse gebildet, die bis heute die Stadt prägen sollte.

Aber so hoch gerühmt und kühn die Anlage auch sein mochte, so fehlerhaft und schlecht gebaut war sie von Anfang an. Denn bereits während die Bauarbeiten liefen, musste mit den Reparaturen begonnen werden. So ist die Geschichte des Oktogons und der Kaskaden auch eine Sanierungsgeschichte, deren Ende nicht absehbar ist.

Guerniero hat das möglicherweise frühzeitig eingesehen. Als er während der Bauarbeiten unter dem Titel „Delineatio Montis“ seine Entwurfszeichnungen als Mappenwerk 1706 in Rom veröffentlichen ließ, um sich feiern zu lassen, schrieb er in das Vorwort unter anderen den Satz: „Die Arbeit seye nun an sich selbsten wie sie wolle / und ob ich schon in der Kunst und Geschicklichkeit gefehlet haben möchte…“ Unschwer lässt sich daraus ein Eingeständnis falscher Berechnungen ableiten.

Aber es war nicht nur das Unvermögen von Guerniero, das das dreigeschossige Oktogonschloss und die Kaskaden zur Dauerbaustelle werden ließ. Der leicht zu bearbeitende Tuffstein erwies sich angesichts der Witterungsverhältnisseals das falsche Material. Zudem war immer das Geld knapp; schließlich beliefen sich die Baukosten auf etwa jährlich 20 000 Reichstaler. Außerdem wurden neben Bauarbeitern auch unkundige Untertanen zum Dienst verpflichtet. In den Berichten aus jener Zeit ist von Protesten und Arbeitsniederlegungen der Handlanger und Fuhrleute zu lesen.

Für die größten Probleme sorgte aber die 1713 getroffene Entscheidung des Landgrafen, auf das schon fertige Oktogon eine spitze Pyramide und die kolossale Herkulesfigur zu setzen. Diese Planänderung machte sätzliche Sicherungsmaßnahmen notwendig. Die Grundmauern des Oktogon mussten verstärkt werden, nachdem offenbar Guerniero schon Berechnungsfehler unterlaufen waren. Daher mussten auch die großen offenen Bögen untermauert werden, wodurch das Bauwerk seine Leichtigkeit verlor. Guerniero. der vom Landgrafen mit 3000 Reichstalern jährlich gut belohnt worden war (die Wintermonate durfte er in Italien verbringen), entzweite sich offenbar mit dem Fürsten.

Denn zum einen wurde nur ein Teil seines Entwurfs realisiert und zum anderen geriet er wohl wegen der Baumängel unter Druck. So setzte er sich 1715 heimlich aus Kassel ab; allerdings hinterließ er Vorschläge für die Sanierung. Die Kaskaden und das Oktogon wurden am 30. November 1717 eingeweiht, nachdem der von dem Augsburger Kupferschmied Johann Jacob Anthoni in Kupfer getriebene Herkules fertig gestellt war. Noch lange sollte diese über acht Meter hohe Figur die Gemüter beschäftigen, weil sie als die größte Monumentalplastik nördlich der Alpen galt. Der Landgraf allerdings musste schon fünf Jahre nach der Fertigstellung größere Sicherungsarbeiten am Oktogon einleiten. 1795 wurden sogar Soldaten eingesetzt, um einen Einsturz zu verhindern. Die Folge war, dass von 1802-04 die Gewölbe und Fassaden des Grundbaus saniert und ersetzt wurden. Doch 1823 stürzte der Südostvorbau ein.

Nachdem der Vorbau neu errichtet worden war, musste sieben Jahre später die Pyramide zum Teil erneuert werden. Bald darauf wurde auch der Nordostvorbau neu aufgebaut. Im 20. Jahrhundert ging das so weiter. Die Kaskaden und das Oktogonschlosswerden wahrscheinlich nie endgültig fertig und gesichert sein. Beschützer, der jederzeit zur Keule greifen kann

Beschützerr, der jederzeit zur Keule greifen kann

Herkules ist der lateinische Name für den griechischen Halbgott Herakles. Der Sage nach war Herakles der Sohn des Zeus und der Alkmene. Sein Name steht in Beziehung zu der Zeus-Gattin Hera, die den Sohn der Alkmene vernichten wollte. Doch bereits als Neugeborener hatte Herakles so viel Kraft, dass er die von Hera gesandten Schlangen erwürgen konnte. Berühmt wurde Herakles durch seine List und Stärke, die er bei der Erledigung seiner zwölf Aufgaben unter Beweis stellen konnte.

Er überwand Ungeheuer und sorgte für Ordnung (Reinigung des Augias-Stalls). Aber er war nicht nur ein Kraftprotz, sondern auch ein Tugendheld. Denn am Scheideweg entschied er sich gegen den be1 quemen und für den schwierigen Pfad der Tugend. Eben diese ideal scheinende Verbindung von schier unüberwindlicher Kraft und und tugendhafter Gesinnung ließ den Halbgott Herakles zu der Gestalt werden, als die sich weltliche Herrscher gern verkörpert sahen. Daher wurden seit der griechischen Antike Herakles und seine Taten unzählige Male in Vasen, in Reliefs und Skulpturen dargestellt. Die berühmteste Fassung, die auch die Vorlage für Kassel
lieferte, stammt von dem griechischen Bildhauer Lysipp. Er soll seine knapp drei Meter große Kolossalfigur um 320 v. Chr. geschaffen haben. Zu sehen ist ein vor Kraft strotzender Held, der sich nach getaner Arbeit ausruht. Er stützt sich auf seine Keule, über die er das Fell des von ihm besiegten Löwen gehängt hat. Sein linker Arm hängt lässig über der Keule. Seine rechte Hand hat er hinter den Rücken gestreckt. In ihr liegen die drei goldenen Äpfel, die ein Hochzeitsgeschenk an Zeus und Hera waren und die Herakles von den Hesperiden zurückgeholt hat.

Das griechische Original dieser Figur ist nicht erhalten. Überliefert ist aber die römische Kopie, die nach ihrem Aufstellungsort in Rom Herkules Farnese genannt wird. Gleich zwei Fassungen dieses Herkules Farnese waren 1546 zufällig in den Caracalla-Thermen gefunden worden, als man bei Abbrucharbeiten Baumaterialien für den Petersdom gewinnen wollte. Papst Paul III. ließ die beiden Kolossalfiguren in der Hofloggia des Palazzo Farnese aufstellen, wo sie zu Attraktionen für die Besucher wurden. Auch Landgraf Karl, der 1699/1700 nach Italien reiste, um Anregungen für den geplanten Bergpark zu sammeln, schaute sich am ersten Tag seines Rom-Besuchs den Herkules Farnese an und war gewiss überwältigt.

Die Entscheidung, den Bergpark und das Oktogonschloss oben auf der Höhe mit einem dreifach vergrößerten Herkules zu krönen, fiel aber erst 13 Jahre später. Ein Landgraf, der eine solche Gestalt eine ganze Landschaft überragen lässt, verfolgt natürlich einen eindeutigen Zweck. Ohne sich selbst an die Stelle des kraftvollen Halbgotts zu setzen, sieht er sich in der Gestalt sinnbildlich verkörpert – als siegreicher und tugendhafter Held. Der sich ausruhende Herkules wirkt mit seinem nach unten geneigten Kopf leicht melancholisch, keinesfalls triumphierend. Man kann ihn als pausierenden Beschützer ansehen, aber auch als Mahnung und Bedrohung, denn jederzeit kann er wieder zur Keule greifen.

Die Kasseler, die die antike Sagenwelt nicht kannten, sahen in der Kraftgestalt eine Art biblischen Christopherus, weshalb der Herkules oft Christoph genannt wurde. Nach der Aufstellung der aus Kupfer getriebenen 8,25 Meter hohen Figur wurde das gesamte Figurenprogramm der Wasserspiele und Grotten unterhalb des Oktogons auf den Herkules bezogen. Das Oktogon ist ohne Figur 63 Meter hoch. Der 1,55 Meter hohe Kopf des Herkules erreicht die> Höhe von 596 Metern überg dem Meeresspiegel.

27. 7. 2003

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