Die sich selbst schöpfende Zeichnung

Ausstellung Nasira Turganbaj im Verwaltungsgerichtshof

Wir sind es gewöhnt, die Keramiken erst dann als vollendet anzusehen, wenn sie mit Glasuren überzogen sind und in ihnen die Farben aufblühen können. Die bei der Abkühlung entstandenen feinen netzartigen Strukturen auf den gebrannten Gefäßen übersehen wir meist. Für uns zählen die Perfektion der Form und der Glanz der Farben.
Wenn wir uns mit den Arbeiten von Nasira Turganbaj auseinandersetzen, müssen wir umdenken und einen anderen Ansatz suchen. Die aus Kirgisistan stammende Künstlerin meidet gerade die prallen Farben und kräftigen Kontraste. Zart und verhalten geht sie ans Werk, immer wieder mit Bedacht experimentierend. Vor allem kehrt sie die Ausdruckstechnik um. Sie holt die beim Abkühlen entstehenden Netzstrukturen aus dem Hintergrund und überlässt dem Springen und Reißen des Materials, was wir als Krakelee verstehen, die Gestaltungskraft. Die Kugelvasen und runden Schalen sowie die Platten verwandeln sich in Projektionsflächen, auf denen die quirligen Linien und Netzstrukturen ihr eigenwilliges Spiel treiben. Die Künstlerin kultiviert mit Begeisterung das Neben- und Übereinander der zarten und groben Risse. Das, was unter anderen Bedingungen als fehlerhaft empfunden würde, wird hier zum gewollten Effekt.
Nasira Turganbaj lässt den Naturkräften freien Lauf. Nicht ganz, wohlgemerkt, weil sie beim Wechsel der Erkaltungsprozesse steuernd eingreift und mal ein Wirrwarr aus kräftigen Linien und dann wieder sich überlagernden Netzen hervortreten lässt. Im Grunde lässt sie diese Zeichnungen sich selbst schöpfen. So genau sie vorher weiß, wie die Oberflächenstruktur aussehen wird, so bleibt doch ein gewichtiger Rest, der sich ganz anders entfaltet als gedacht.
Es bildet sich ein überraschender Kontrast heraus. Die Kugelvasen, runden Schalen und Platten sind perfekt gestaltete und in sich ruhende Keramiken. Es sind Werke, deren Gleichmaß eine wohltuende Ruhe ausstrahlt. Löst man jedoch den Blick von der Gesamtgestalt und konzentriert sich auf die Oberfläche und die Sprachgewalt der Linien, dann blickt man auf wild bewegte Zeichen und chaotische Kraftfelder. Hier schieben sich dunkle Einfärbungen unter die kräftigen Linien, da entdeckt man, dass sich im Untergrund zarte Netze ausbreiten. Die Oberfläche wird zum Bild, das sich von der keramischen Form löst. Und je intensiver man diese Lineaturen studiert, desto vielfältiger erscheinen die Kompositionen, die sich im Wechselspiel von natürlichem Prozess und künstlerischer Steuerung herausbilden.

Nasira Turganbaj hat in ihrer Heimat Kirgisistan an der Kunstakademie und später dann in Kassel bei Ralf Busz Kunst mit dem Schwerpunkt Keramik studiert. Nachdem Ralf Busz an der Kunsthochschule seine Keramik-Klasse abgeben musste, konnte sie ihr Studium bei Urs Lüthi und Alf Schuler fortsetzen und als Meisterschülerin abschließen. Lüthi und Schuler hätten sich nicht darauf eingelassen, wenn sich die junge Künstlerin nur mit der Keramik auseinandergesetzt hätte. Ihre Lehrer spürten den starken künstlerischen Impuls, der – unabhängig von dem Material – in ihren Arbeitsprozessen offenbar wurde.
Da ist einmal das freie Spiel mit den Linien, das weit über die Formung der Keramik hinausgeht. Ja, in der Kultivierung der Krakelee-Technik steckt die Umkehr der keramischen Tradition. Insbesondere die Platten, die wie Tische präsentiert werden, verstärken den Bild-Charakter. Mal lässt Nasira Turganbaj auf einer Platte ein Gewirr kräftiger Linien entstehen, das an eine Landkarte mit kaum zu überblickenden Wegen erinnert, und dann wieder nimmt sie diese Binnenzeichnung zurück, so dass wir auf eine im Raum schwebende abstrakte Zeichnung blicken. Immer wieder öffnet sich die Oberfläche und wir schauen auf tiefer liegende Schichten mit ganz feinen Netzen.
Wie groß das Interesse der Künstlerin an der Komposition dieser Strukturen ist, belegen die an der Wand hängenden Bilder, die auf den ersten Blick überhaupt keinen Bezug zu den Keramiken zu haben scheinen. Doch dieser Eindruck täuscht. Denn es handelt sich um Fotografien von keramischen Krakelee-Strukturen, die ums Vielfache vergrößerte Ausschnitte zeigen. Diese fotografischen Bilder weisen Nasira Turganbaj als eine Zeichnerin aus, die sich dem Kräftespiel natürlicher Linien und kontrollierter Prägungen ausliefert. Sie könnte mit der Hand und mit dem Stift solche Kompositionen nicht schaffen, weil fernab der künstlerischen Gestaltungskraft die Urgewalt keramische Prozesse spürbar wird.
Mit Blick auf diese Ausstellung hat Nasira Turganbaj an einer vierten Werkgruppe gearbeitet. Aus der sind hier drei große Schalen zu sehen. Es handelt sich um Keramiken in Aufbautechnik. Das heißt: Sie sind nicht gedreht, sondern aus dünnen Platten geformt. In die Platten, die aus weißer Quarz-Masse geknetet werden, arbeitet Nasira Turganbaj auf der Außenseite Spuren von Kobald-, Kupfer- und Eisenoxid ein. Es sind wirklich nur Spuren, weil die Künstlerin die verhaltene Farbigkeit liebt und die kräftigen und lauten Farbtöne meidet.
Die Farben werden in die Masse hinein geknetet, so dass wie beim Krakelee die Keramikerin nur bedingt die Verteilung und die Intensität der Farben steuern kann. Entscheidend aber ist, dass die Außenseite der Schale im Gegensatz zur Innenwand nicht glasiert wird. So blühen die Farben nicht auf, sondern erscheinen flüchtig wie bei der Aquarellmalerei. Nasira Turganbaj malt nicht, aber sie fühlt sich gelegentlich wie eine Malerin, für die Oberfläche der Form wie eine Leinwand wirkt.
Nach dem zweiten Brand glänzt die Innenseite und spiegelt das Licht. Die Außenseite hingegen bleibt rau. Auf ihr können sich nun die Farben entfalten, die wie ein Band die Schale umschließen. Die farbigen Bilder sind eigenwillige, abstrakte Kompositionen. Aber unwillkürlich muss man an Landschaftsformationen denken. Hier könnten ein Wasserlauf oder ein See zu erkennen sein, dort ein Bergmassiv. Das ist ganz im Sinne der Künstlerin, die sich bei diesen Objekten an die Berglandschaften ihrer Heimat erinnert fühlt. Besonders plastisch ist dieser Effekt bei der Schale, die nicht in einem glatten Rand ausläuft, sondern so wirkt, als sei der obere Teil herausgebrochen.
Jeder ist frei darin, seinen eigenen Assoziationen nachzugehen. Entscheidend ist wiederum, dass sich diese aus dem Inneren kommende Komposition von der Form löst und zum eigenständigen Bild wird. Verstärkt wird diese Wirkung dadurch, dass die Innenseite bestenfalls durchscheinende Farbspuren enthält. Diese Gefäße erlangen eine erzählerische Kraft.
6. 7. 2016

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