Für immer nur ein Traum?

Die Neue Galerie als Kern eines documenta-Museums

Es war ein Gefühl, als dürften wir Weihnachten im Hochsommer feiern. Auf einmal wurden Dinge denkbar, die man über Jahre und Jahrzehnte als utopisch abgetan hatte. Denn der hessische Kunst-und Wissenschaftsminister Udo Corts hatte im Juli 2003 in der Kasseler Museumsgeschichte ein neues Kapitel aufgeschlagen – auch um die damalige Kasseler Bewerbung um die Kulturhauptstadt Europas zu unterstützen. Nach seinen, mit dem damaligen Direktor Michael Eissenhauer abgestimmten Vorstellungen sollten sich die Staatlichen Museen in Kassel-Wilhelmshöhe und in der Innenstadt praktisch neu erfinden. Das Schloss sollte zum Zentrum eines Museumsparks werden, und im Zusammenspiel von documenta Archiv und Neuer Galerie sollte sich Kassel im Zentrum dauerhaft als documenta-Stadt profilieren. Es sollte, so formulierte er, keine Denkverbote geben.
Einen ersten vorsichtigen Schritt in diese Richtung hatten die Stadt und das Land Hessen 1982 getan, als sie sich darauf verständigten, regelmäßig Werke aus einer documenta für die örtlichen Sammlungen anzukaufen. Nun wollte man einen großen Sprung wagen. Erklärtes Ziel sollte sein, die Neue Galerie an der Schönen Aussicht zu einem documenta-Museum auszubauen. Das hieß: Nicht nur die Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts sollte die Neue Galerie verlassen, sondern auch die, die vor 1945 entstanden war. Das wäre ein radikaler und wagemutiger Schnitt gewesen, da die Neue Galerie zu dieser Zeit große Mühe gehabt hätte, ihre Räume stimmig und vor allem qualitätsvoll zu füllen. Denn neben den bis dahin überschaubaren documenta-Erwerbungen hatte es in der Zeit nach 1945 keine systematische Ankaufspolitik für die internationale Kunst der Moderne gegeben.
Trotzdem hatte die Neue Galerie in den ersten 15 Jahren nach ihrer Eröffnung den Eindruck erwecken können, ihre zeitgenössische Sammlung bewege sich auf der Höhe der Zeit. Da waren in den Hauptsälen im Erdgeschoss und im 1. Obergeschoss Schlüsselwerke der sechziger Jahre zu sehen. Künstler wie Georg Baselitz, Gerhard Richter, A. R. Penck, Palermo, Carl Andre, Dan Flavin, Reiner Ruthenbeck, Sol LeWitt und Marcel Broodthaers waren in dem Museum hervorragend vertreten. Auf die Frage, in welchen Museen denn Gemälde von Baselitz ausgestellt seien, konnte der Künstler 1986 bei der Verleihung des Goslarer Kaiserrings ohne Zögern sagen: in Kassel, in der Neuen Galerie.
Aber leider handelte es sich bei diesen Werken nicht um den eigenen Besitz. Die Neue Galerie hatte in den siebziger und achtziger Jahren ihr zeitgenössisches Profil zwei großen Leihgabenkomplexen zu danken. Rechtzeitig vor der Eröffnung der Neuen Galerie im Jahr 1976 war es dem damaligen Direktor der Staatlichen Kunstsammlungen in Kassel, Prof. Erich Herzog, gelungen, die Sammlungen Krätz und Herbig nach Kassel zu holen. Im Vergleich zu Beständen aus dem 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert waren die Leihgaben zur Kunst der sechziger Jahre nicht gewaltig. Aber mit der Entscheidung, einen Teil der Minimal- und Konzeptkunst in der Eingangshalle zu präsentieren, hatte die Museumsleitung ein unmissverständliches Signal gegeben: Mit Hilfe der Leihgaben sollte die Neue Galerie den Anschluss zu der Kunst herstellen, die 1968 und 1972 in der documenta gezeigt worden war. Die Neue Galerie war auf dem Weg zu einem Museum des 20. Jahrhunderts.
Doch die Hoffnung, auf der Basis der Leihgaben sowie der documenta-Ankäufe könne die Neue Galerie zu einem Museum der Gegenwart ausgebaut werden, verflog in den neunziger Jahren. Erst wurde die Sammlung Krätz mit ihren 50 Werken abgezogen und Ende 1991 bei Sotheby’s in New York versteigert. Zuvor waren aus der Sammlung Werke von Polke, Hödicke und Oldenburg von der Neuen Galerie angekauft worden – auch um das dauerhafte Interesse an den Bildern und Objekten zu bekunden. Aber das half ebenso wenig wie der spektakuläre Ankauf des Beuys-Raumes mit der Installation des Rudels („The Pack“) für 16 Millionen Mark aus der Sammlung Herbig, deren 114 andere Arbeiten 1997 Kassel verließen. Immerhin hatte die Neue Galerie durch den Beuys-Raum einen internationalen Schwerpunkt erhalten, der Kassel zusammen mit dem Projekt „7000 Eichen“ zur Beuys-Stadt machte.
Zwar konnte 1998 die Leiterin der Neuen Galerie, Marianne Heinz, die Neue Galerie mit Hilfe von Depot-Beständen so einrichten, dass die Abwanderung der Sechziger-Jahre-Kunst oberflächlich keine Lücken riss, aber inhaltlich war die Neue Galerie um Jahre zurückgefallen, zumal Bilder von Baselitz, Penck und Richter mittlerweile so hohe Preise erzielten, dass aus Kasseler Sicht keine Chance auf Nachkauf bestand.
Erschwerend kam hinzu, dass sich mittlerweile der Charakter der Kunst und das Profil der documenta gewandelt hatten. Als 1982 die ersten Ankäufe aus der documenta für die Neue Galerie erfolgten, da waren die Ausrichtungen noch nahezu deckungsgleich: Auf beiden Ebenen dominierte die Malerei, und so war es ein Leichtes, gemäß dem Bestand der Neuen Galerie Gemälde anzukaufen.
Aber diese Konstellation war einmalig. Als 15 Jahre später wieder an documenta-Erwerbungen zu denken war, spielte die Malerei in der documenta X nur eine marginale Rolle. Daraus ergab sich ein Konflikt, der auch nach außen sichtbar wurde. Die Museumsleiterin hatte nämlich dem Erwerb von Video-Kunst und Fotografie eine Absage erteilt hatte, weil diese Medien in anderen Häusern besser präsentiert würden. Sie verstand die Neue Galerie im Wesentlichen als ein Haus der Malerei. Also schlug sie 1997 vor, mit Hilfe der documenta-Sondermittel Bilder von Pierre Soulages, Kurt Kocherscheidt und Jerry Zeniuk anzukaufen, die zwar früher mal an einer documenta beteiligt waren, aber jetzt nichts mit der Ausstellung zu tun hatten. So spitzte sich die Frage zu, ob die Ankäufe aus einer documenta andeutungsweise den Charakter der Ausstellung spiegeln sollten oder ob die Sammlungsbestände der Neuen Galerie vorgeben, welche Werke zum Ankauf in Frage kommen. Für die Hessische Kulturstiftung existierte diese Fragestellung nicht: Sie verlangte, Werke aus der aktuellen Ausstellung anzukaufen und verweigerte ihren Zuschuss in Höhe von 200.000 Mark.
Doch es gab noch andere Konfliktfelder. Immer wieder mal kam die Frage auf, ob es denn richtig sei, die Sammlung mit der höfischen Malerei des späten 18. Jahrhunderts beginnen zu lassen. Für diese Lösung sprach die Tatsache, dass Johann Heinrich Tischbein nicht nur hessischer Hofmaler war, sondern auch Mitbegründer der Kasseler Kunstakademie. Der historische Akademie-Bezug also hätte also eine Verbindung bis zur aktuellen Gegenwart hergestellt, wenn man in der Ankaufspolitik auch die Künstler-Professoren der heutigen Kunsthochschule bedacht hätte. Aber das hatte man nur bruchstückhaft getan. Vor allem hatte man es versäumt, Arbeiten jener Kunsthochschullehrer anzukaufen, die als documenta-Teilnehmer nach Kassel berufen worden waren – wie Bernhard Prinz, Norbert Radermacher, Alf Schuler, Dorothee von Windheim, Rob Scholte. Immerhin wurde 2014 Urs Lüthi mit einem Ankauf bedacht.
Das große Problem der Neuen Galerie ist, dass sie nicht wie die Gemäldegalerie Alte Meister in Wilhelmshöhe über eine gewachsene und international beachtete Sammlung verfügt. Zum einen spürt man, dass ihre Bestände im 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht systematisch erweitert wurden und dass zum anderen die städtischen und staatlichen Sammlungen, die aus unterschiedlichen Quellen gespeist wurden, bis in die siebziger Jahre nicht aufeinander abgestimmt worden waren. So gibt es einige regionale und überregionale Inseln wie die Willingshäuser Malerschule und die Kasseler Akademie um 1900, die deutsche Romantik und die Neo-Impressionisten, Lovis Corinth, die informelle und die konkrete Malerei. Zur Kunst zwischen 1800 und 1970 hat die Neue Galerie einige wenige Leuchttürme, aber kein Profil, das sich mit vergleichbaren Sammlungen messen könnte.
Parallel zur documenta 8 zeigte 1987 die Neue Galerie die Ausstellung „Gegenstand Malerei“, in der sehr plausibel vorgeführt wurde, dass ein Weg in die gegenstandslose und konkrete Malerei von Lovis Corinths „Walchensee“ über Fautrier und Poliakoff zu Girke, Graubner und Hoehme führt. Aus der Tatsache, dass eben diese Künstler mit Bildern in der Neuen Galerie vertretensind, lässt sich aber nicht ableiten, dass dieser Malerei-Schwerpunkt für die Zukunft dieses Museums bindend sei. Erst recht konnte man nicht mit Blick auf die documenta-Erwerbungen an den neueren Medien wie Fotografie und Video-Kunst weiterhin vorbeigehen. Die von dem früheren Direktor Michael Eissenhauer ausgegebene Parole, die Neue Galerie solle keine „Kunst aus der Steckdose“ erwerben, war ebenso griffig wie falsch.
Mittlerweile hat sich die Ankaufspolitik gewandelt. Dank der jüngsten documenta-Erwerbungen und anderer Ankäufe gehören heute Video- und Fotoarbeiten ebenso zum Bestand der Neuen Galerie wie Installationen. Unter der Leitung von Dr. Dorothee Gerkens hat sich der Umgang mit den Werken der neuen Medien spürbar entkrampft. Dadurch wird eine neue Kontinuität möglich.
Doch der ganz große Plan, den Kunst-Minister Udo Corts in Abstimmung mit Eissenhauer 2003 vorgestellt hatte, die Neue Galerie zu einem documenta-Museum oder zu einer Pinakothek der Moderne umzubauen, wurde recht schnell zu den Akten gelegt. Zwar war 2009 noch einmal vertraglich von der Stadt und vom Land Hessen bekräftigt worden, die Neue Galerie zu einem Museum für zeitgenössische Kunst auszubauen, doch zu der Zeit hatte sich die Leitung der Museumslandschaft Kassel schon von dem Gedanken an einen radikalen Schnitt verabschiedet.
Die Chance, die Neue Galerie wirklich neu zu denken, hatte sich zwischen 2006 und 2011 ergeben, als das Gebäude komplett ausgeräumt und umgebaut wurde. Da hätte die Möglichkeit bestanden, die Sammlungen neu zu ordnen, weil ja auch das Landesmuseum umgebaut werden sollte. Doch man wählte die denkbar kleinste Lösung: Die Tischbein-Gemälde und die übrige höfische Malerei des 18. Jahrhunderts wurden abgezogen und der Gemäldegalerie in Wilhelmshöhe zugeordnet. Der übrige Bestand blieb unangetastet, so dass der Rundgang chronologisch mit der Malerei des frühen 19. Jahrhunderts beginnt. Für den Direktor der Museumslandschaft Hessen Kassel, Prof. Bernd Küster, bildet die Kunst des 19. Jahrhunderts die Basis der Moderne, die man vor Augen haben müsse, wenn man die Moderne verstehen wolle. So sieht er den Untertitel der Neuen Galerie – „Sammlung der Moderne“ – als passend an.
Immerhin gibt es jetzt mehr Platz für die documenta-Werke und die jüngsten Erwerbungen. Auch ist im Souterrain ein Platz für Wechselausstellungen geschaffen worden, so dass Dorothee Gerkens in zwei Ausstellungen – Wols und zur Pop-art – vorführen konnte, was die Neue Galerie zur Aufarbeitung der documenta-Geschichte beitragen kann. Dieser Weg müsste sich – auch in Kooperation etwa dem documenta Archiv – ausbauen lassen.
Gleichwohl ist die Bezeichnung „Sammlung der Moderne“ im Moment eher ein Versprechen als eine Kennzeichnung der sichtbaren Bestände. Man muss sich nur einmal vorstellen, wie die Neue Galerie aussähe, wenn sie bei Lovis Corinth, Louis Kolitz und Max Liebermann oder gar ein halbes Jahrhundert später bei Bernard Schultze, Ernst Wilhelm Nay und Fritz Winter beginnen würde. Warum kam es nicht zu dem großen Schnitt?
Zum einen hatte es keine ernsthaften Bemühungen geben, für die Kunst des 19. Jahrhunderts ein überzeugendes Ausstellungskonzept zu entwickeln. Der Vorschlag, das 19. Jahrhundert in längerfristigen Wechselausstellungen in dem Torwachtgebäude zu zeigen, wirkte halbherzig. Anderseits war der Gedanke, die Gemäldegalerie in Schloss Wilhelmshöhe um das 19. Jahrhundert zu erweitern, nicht weiterverfolgt worden. Immerhin hatte der Museumsplan von 2003 vorgesehen, das komplette Schloss zu einem reinen Museumsbau umzugestalten. In diesem Zentrum des Museumsparks Wilhelmshöhe hätten die Bilder des 19. Jahrhunderts durchaus einen guten Platz gehabt.
Auf der anderen Seite hätte eine auf das 20. und 21. Jahrhundert konzentrierte Neue Galerie einen stärkeren Auftritt haben müssen. Denn die Bestände bis in die siebziger Jahre hätten für ein solches Museum im Moment keine tragfähige Basis ergeben. Das war den Verfechtern eines documenta-Museums klar. Deshalb gab es immer wieder Überlegungen, mit Leihgabenkomplexen zumindest einige Lücken zu schließen. So war vor dem Umbau der Neuen Galerie vorgeschlagen worden, ersatzweise im 2. Obergeschoss des Fridericianums eine solche Sammlung zu zeigen und damit gleichzeitig eine Brücke zwischen der Neuen Galerie und der Kunsthalle herzustellen. Aber die Kontakte zu entsprechenden Sammlern wurden nicht gepflegt. Dabei gab es einen Zeitraum, in dem René Block, der zwischen 1998 und 2006 die Kunsthalle Fridericianum leitete, bereit gewesen wäre, Teile seiner in den sechziger Jahren begründeten Sammlung in Kassel zu zeigen.
Auch Blocks Nachfolger Rein Wolfs wäre bereit gewesen, die Verbindungen zwischen Kunsthalle und Neuer Galerie zu stärken, um auf diese Weise dem Aufbau eines documenta-Museums näherzukommen. Die Ausgangslage wird für Kassel allerdings nicht günstiger, da neben privaten Sammlern auch Museen für zeitgenössische Kunst (wie etwa das Museum Wiesbaden) systematisch auf den Erwerb von documenta-Werke setzen. Trotzdem ist es nicht zu spät für einen solchen Schritt. Man müsste das documenta-Museum nur wollen.

2015

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