Wie ehrt man Persönlichkeiten, die in die Spitzenstellungen des Staates berufen wurden und die mit ihrer Arbeit zum Bestand und Funktionieren unserer Demokratie beigetragen haben? Eine klare Antwort darauf wurde für die obersten deutschen Gerichte gefunden: Sie würdigen ihre Präsidenten nach dem Ausscheiden aus deren Ämtern; indem sie sie in Porträtgemälden verewigen lassen. Die Motivation für diese Form der Ehrung ist leicht nachvollziehbar: Durch die Porträts soll einerseits die Judikative als dritte Gewalt des Staates sichtbar herausgehoben, und zugleich soll dadurch eine Kontinuität der Rechtsprechung hergestellt werden. So sind in den Bundesgerichten kleine Galerien entstanden, die mittels der gemalten Porträts dem Rechtsstaat individuelle Gesichter geben. Nicht so einfach und konfliktfrei verhielt es sich bei der Frage, ob für die Würdigung der Bundespräsidenten und Bundeskanzler eine vergleichbare Regelung getroffen werden sollte.
Als in der jungen Bundesrepublik die Grundsatzentscheidung für Auftragsporträts getroffen wurde, war den Schöpfern dieses Gedankens wahrscheinlich nicht bewusst, dass genau zu dieser Zeit in der Kunstwelt eine Auseinandersetzung um die Frage tobte, ob angesichts des Siegeszuges der abstrakten Kunst gemalte Porträts überhaupt möglich und künstlerisch sinnvoll seien, zumal der Nationalismus und der Sozialismus den Realismus in Verruf gebracht hatte. Und so kam es dazu, dass es immer wieder Streit um die Porträts gab, weil in dem einen Fall ein Maler den Auftrag erhielt, der den künstlerischen Ansprüchen nicht genügte, oder weil die Porträtierten sich in den Bildern nicht wiedererkannten. Das gemalte Porträt schien keine Zukunft zu haben.
Zugespitzt wurde der immer wieder aufflammende Streit beispielsweise erst vor wenigen Jahren, nachdem Bundespräsident Christian Wulff den Maler Volker Henze beauftragt hatte, alle Amtsträger seit Theodor Heuss zu porträtieren. Das Ergebnis war eine Galerie gleichformatiger Bildnisse von einer Hand, die vor allem auf Ähnlichkeit setzte, aber nur wenig von den Persönlichkeiten preisgab und schon gar nicht zum künstlerischen Selbstverständnis jener Zeit beitrug. Diese oberflächlichen Gemälde mit wechselnden farbigen Hintergründen verursachten so viel Ärger, dass Wulffs Nachfolger Joachim Gauck sie in seinem Amtssitz Schloss Bellevue in einen weniger frequentierten Raum umhängen ließ.
Der Umgang mit dem Porträt änderte sich in den 60er Jahren. Die Pop-art brachte nicht nur das Gegenständliche in die Kunst zurück, sondern auch das Bildnis. Andy Warhol beispielsweise wurde in den 70er und 80er Jahren zu einem weltweit gefragten Porträtkünstler. Auch konnten sich bei der Auftragsvergabe vermehrt die realistisch orientierten Künstler durchsetzen, die sich im Künstlersonderbund zusammengeschlossen hatten. Manfred Bluth, einer der Lehrer von Christine Reinckens, erhielt den Auftrag, Richard von Weizsäcker zu porträtieren, und Matthias Koeppel schuf die Bildnisse der beiden früheren Bundespräsidenten Johannes Rau und Horst Köhler.
Christine Reinckens, die von Peter Masuch mit dem hier nun erstmals präsentierten Porträt beauftragt wurde, bewegt sich also in bester Gesellschaft. Auch sie gehört dem Künstlersonderbund an. Allerdings hatte sie weit bessere Voraussetzungen als ihr Kollege Matthias Koeppel, der berichtet, dass er für die Porträt-Sitzung mit Horst Köhler gerade mal 20 Minuten Zeit hatte. In diesen wenigen Minuten konnte er zwei, drei Fotos machen und zwei schnelle Arbeitsskizzen anfertigen. Den Rest musste er im heimischen Atelier erledigen. Routine und Phantasie mussten die mangelnde Auseinandersetzung mit Persönlichkeit ersetzen. Das wäre für Christine Reinckens nichts gewesen.
Wohl hätte sie keine Schwierigkeiten gehabt, in Minutenschnelle das Gesicht und die Augen in einer Skizze zu umreißen. Das muss sie immer wieder leisten, wenn sie beispielsweise im Gericht Angeklagte porträtieren muss. Doch ansonsten ist die Frage nach der vordergründigen Ähnlichkeit für sie zweit- oder drittrangig. Sie sucht den Dialog und die Partnerschaft mit dem Porträtierten. Sie versucht, ihn zu erfassen und zu verstehen: Wie bewegt er sich, wie gibt er sich, wenn er Modell sitzt, und wie, wenn er sich entspannt, geht der Blick nach innen oder außen, was gibt er von seinem Inneren Preis?
Wir alle wissen, wie schwierig es ist, aus der Vielzahl der uns vorgelegten Porträtfotos genau jenes herauszufinden, das unserem Bild, das wir von uns haben, entspricht. Oft sind es nur Nuancen, die uns die eine Fotoreihe verwerfen und aus der anderen das wahre Bild herauslösen lassen. So hat Christine Reinckens nicht nur zeichnerische und malerische Studien von Peter Masuch angefertigt, sondern auch reihenweise Porträtfotos von ihm gemacht, um genau den Ausdruck zu finden, der beide zufriedenstellt – den Porträtierten und die Malerin. Denn das Einverständnis mit dem Porträtierten ist für die Malerin zwingende Voraussetzung. Viermal saß Peter Masuch im Atelier Modell. Dazu kamen noch kurze Begegnungen. Nahezu ein halbes Jahr trieb die Auseinandersetzung mit dem Porträt die Malerin um – die allerdings in der Zeit auch an völlig anderen Bildern arbeitete oder Ausstellungen vorbereitete.
Immer wieder kehrte sie zu dem Auftragsporträt zurück. Und als aus meiner Sicht das Gemälde längst fertig war, nahm sie sich einzelne Partien noch einmal vor, reduzierte oder verstärkte an einigen Stellen die Farbigkeit und setzte Lichtpunkte rund um die Augen. Nun ist das Werk vollendet, und das Gesicht ist so angelegt, dass es nicht nur den einen Ausdruck birgt, sondern offen ist für weitere Möglichkeiten.
Es ist zuerst der Blick, der uns anspricht. Er geht allerdings an uns vorbei – in die Ferne, und damit öffnet er den Raum. Der Blick ist ernst, aber nicht streng, sondern freundlich, ja, in gewisser Weise auch milde. Kaum merklich legt sich der Anflug eines Lächelns auf das Gesicht. Zufriedenheit spricht aus dem Blick, ja, die Arbeit ist erledigt. Gut so. So lässt sich Abschied nehmen. Die aufeinander gelegten Hände unterstreichen das.
Uns als Außenstehende fasziniert vor allem die Robe, deren Rot ins Lilafarbene tendieret. Mit dieser Robe wird das Bildnis in die Jahrhunderte alte Reihe vornehmer Porträts aufgenommen. Der üppige Faltenwurf zeugt nicht nur von der Lust an der Malerei, sondern sorgt auch für Dynamik. Doch diese Bewegung bleibt äußerlich. Von innen strahlt die Komposition Ruhe aus. So bringt Christine Reinckens in diesem Porträt zwei elementare Themen aus ihrem Schaffen zusammen. Das ist die Auseinandersetzung mit dem Menschenbild und mit der Verlebendigung der Figur. Das andere ist die malerische Freude an der Gestaltung von Stoffen und ihren Faltenwürfen.
Was dieses Gemälde einmalig macht, ist die Tatsache, dass es im Grunde ein Doppelporträt ist. Denn neben dem Präsidenten des Bundessozialgerichtes, der jetzt aus dem Amt geschieden ist, sehen wir als bestimmenden Hintergrund Teile der Architektur. Beide Porträts, das des Präsidenten und das des Gebäudes, gehören zusammen, denn genau in die Amtszeit von Peter Masur fiel die Generalsanierung und Erweiterung des Gerichtes.
Der Präsident sitzt mit dem Rücken zur Fensterfront. Das rechtwinklige Raster der Fenster, das die erste Ebene des Hintergrunds bildet, gehört zur Architektursprache des Ursprungbaus, der 1936 bis 1938 von den Nationalsozialisten als Generalkommando errichtet wurde. Diesen kalten Bau mochte keiner. Trotzdem ist er ein wichtiges Dokument unserer Geschichte und insofern ein Denkmal. Den Architekten Junk und Reich sowie der Malerin Christine Reinckens gelang es, diesen Konflikt aufzulösen.
Direkt hinter dem strengen Raster sieht man den ovalen Neubau mit seinen Rundungen und schräg laufenden Diagonalen der Wände und Fenster, in dem sich der Elisabeth-Selbert-Saal befindet. Dieses in den Innenhof gesetzte Oval unterläuft die Strenge des alten Gebäudes, hebt die Schwere auf und schafft Transparenz. Die Aufweichung der Formen führt dazu, dass in der Spiegelung selbst die rückwärtigen Fenster des Altbaus aus den Fugen geraten und sich nicht mehr an die rechtwinklige Ordnung halten.
Auf diese Weise schuf Christine Reinckens eine faszinierende Struktur, die mit ihren verschiedenen Ebenen zum Sinnbild für die komplexe Geschichte dieser Architektur wird. Das Gemälde gibt einem das Gefühl, dass die politische Altlast, die auf dem Gebäude lag, nun überwunden ist. Nicht umsonst sitzt der Präsident vor der Fensterfront und ihren fünf dominanten Ebenen.
Nur selten gelingt es, in einem Gemälde zwei unterschiedliche Aspekte so aufeinander zu beziehen, dass daraus eine in sich geschlossene Geschichte wird. Und obwohl das Hintergrundbild farblich ganz verhalten bleibt und dem von Rottönen beherrschten Porträt den Vortritt lässt, verleiht es der ganzen Komposition Kraft und Dynamik. Es ist, als würde sich im Hintergrund ein Irrgarten öffnen.