Die strickenden Staatenlosen

Einige Notizen zu den Inhalten der Öffentlichen Programme

Handwerkliche Technik wie Weben oder Stricken ist bei uns in der Kunstwelt nicht gefragt. In der Frühzeit der documenta gab es auch Tapisserien in der Ausstellung. Doch das Handwerkliche wurde verdrängt. Erst in jüngster Zeit, als die inhaltlichen Fragestellungen die handwerklichen und ästhetischen überlagerten, wurden solche Arbeiten wieder zugelassen. Man denke an die unendlichen Reihen von Apfelbildern, die von Korbinian Aigner stammen und 2012 in der documenta zu sehen waren.

Im Rahmen der Öffentlichen Programme hat die Gesellschaft der Apatriden (Staatenlose) zu einem Workshop in Athen eingeladen, in dem die Aktivistin und Strick-Künstlerin Click Ngwere sowie die Wissenschaftlerin Denise Seveirra da Silva Strickanleitungen gaben und gemeinsam mit den Teilnehmern die Aspekte des Kapitalismus reflektierten und strickend darüber nachdachten, was Handarbeit unter den gegenwärtigen Bedingungen bedeutet und wie durch die Globalisierung nicht nur die produzierten Waren, sondern auch die heimatlosen Arbeiter quer durch die Welt benutzt und vertrieben werden.

Ein oder viele Körper

Sergio Zevallos ist ein Performance-Künstler, der sich mit Gewalt- und Versöhnungsgesten auseinandersetzt. Dabei stellt er die Frage nach der Identität zur Debatte. Polizisten und Soldaten (ebenso Polizistinnen und Soldatinnen) verkörpern Staatsmacht und Gewalt. Sind sie also immer mit Vertretern der Macht gleichzusetzen oder vereinigen sie nicht in sich mehrere Identitäten – man kann auch sagen: mehrere Körper – beispielsweise, wenn sie in ihr Privatleben eintauchen oder wenn sie schlafen? Das heißt: Zum Wesen der Menschen gehört die Vermischung und Überlagerung mehrerer Körper und Identitäten.

Alles brauchbar

In der Rubrik der Öffentlichen Programme werden auch einige Gesellschaften vorgestellt. Gemeint sind damit Gruppierungen, die sich einem Themenkreis verpflichtet haben. So gibt es eine noosphärische Gesellschaft (eine Gesellschaft, die sich Ritualen verschrieben hat und das Bewusstsein verändern will. Oder die Gesellschaft für das Ende der Nekropolitik, das heißt das Ende einer Souveränität, die verfügen kann, wer leben (oder sterben) darf (oder muss). Oder die Apatride Gesellschaft des politisch Anderen, die sich der Staatenlosen, Vertriebenen und modernen Nomaden annimmt.

Nun gibt es eine weitere Gesellschaft, die sich dem Nachlass (und damit dem Lebenswerk) des mexikanischen Künstlers Ulises Carrión (1941–1989) widmet. Dabei trifft sich, dass Carrión in seiner Haltung exakt der von der documenta 14 propagierten Vorstellung, er trage in sich mehrere Körper/Identitäten, entspricht. Carrión war eine Persönlichkeit, die an der Schnittstelle von Literatur, Performance, Kunst und Leben anzusiedeln war. Ziel ist es, die politische Vorstellungskraft der Teilnehmer an dem Prozess zu stärken.

Carrión kam nach Europa, erweiterte dort sein Wirkungsfeld, arbeitete mit Mail-Art, Künstlerbüchern und
Archiven, um dann 1975 eine Galerie-Buchhandlung in Amsterdam zu gründen, in der seine Performances alle Dinge des Lebens einschlossen – selbst Gerüche und gute (oder schlechte) Manieren.

Die Einbeziehung von Carrións Werk vollzieht sich auf der gleichen Ebene wie die Auseinandersetzung mit dem Werk von Annemarie und Lucius Burckhardt, deren Spaziergangwissenschaften einen Nebenweg zur Kunst und zum Erkenntnisgewinn eröffnet haben.

Kunst als sozialer Faktor

Eröffnet hatte die Öffentlichen Programme im September die Schriftstellerin und Malerin Linnea Dick, die aus einer Familie der kanadischen Indianer stammt und den Kwakwaka’wakw-Namen Malidi führt. Linnea Dick engagiert sich als Künstlerin für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Indianer. Eine Zeit lang lebte sie mit dem Volk der Haida. Ihre gesamte Arbeit ist der Verknüpfung alter indianischer Kulturen und des heutigen Lebens verpflichtet.

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