Wie ein weißes Loch

Ausstellung „Reflexion“ im Fridericianum

Eine der.magischen Zahlen in diesem Jahr heißt 1789. Wir haben zwar Angst vor der kleinen Unruhe und dem großen Umsturz, beim Gedanken an die Französische Revolution aber bekommen fast alle leuchtende Augen: gesicherte Geschichte.
1789 und 1989 sind die beiden Bezugsdaten einer Ausstellung, in der das Kasseler Museum Fridericianum unter dem Titel „Reflexion“ sieben französische Künstler präsentiert. Nachdenken und künstlerisch reagieren auf Aufklärung und Revolution? In seinem Katalogtext zieht Veit Loers eine direkte Linie von der Aufklärung und dem Hinwegfegen der feudalen Ideologie zu den hier versammelten Künstlern und ihren Arbeiten. Sucht man aber Auskünfte in den gezeigten Werken, wird man eher ratlos: Entweder ist die Reflexion so lichtstark, daß die reflektierenden Strahlen die Sicht auf die Inhalte nehmen, oder die künstlerische Reflexion hat zum Ergebnis, daß von den aufklärerischen und revolutionären Inhalten nichts geblieben ist.
Die einzelnen Arbeiten mögen Reflexe sein oder enthalten, die sich auf 1789 beziehen, der Katalogtext überfordert aber eindeutig diese Kunst, die (zu einem Teil) noch einmal das Ende der Bilder konstatiert. Claude Rutault war bereits an der documenta 6 (1977) mit leeren Leinwänden vertreten, deren Farbe genau der entsprach, die die jeweilige Wand trug. Hier hat er nun in einem Raum verschiedenartig weiße Leinwände gruppiert: Die Positionen sind besetzt, aber die Bilder verschwunden. Nicht viel anders verfährt Francois Perrodin mit seinen unterschiedlich großen und aus verschiedenen Materialien gestalteten grauschwarzen Tafeln und Objektkästen: Vom Bild hat die reine Form überlebt.
Der dritte im Bunde ist Michel Verjux, der zwei kreisrunde Lichtprojektionen vorführt, wobei die eine durch die Wand, über die sie zur Hälfte streift, verzogen wird. Das grelle Licht schneidet ein großes weißes Loch in die Wand. Die Reflexion verliert sich in der Leere, die nur dann gefüllt wird, wenn die Besucher unmittelbar vor den Lichtkreis treten.
In diesen Arbeiten, so scheint es, wird mehr der Zustand der sich selbst befragenden Kunst beleuchtet als der Nachhall des gewaltigen Aufbruchs vor 200 Jahren. Ohne den Katalog käme man gar nicht darauf, den philosophisch-historischen Zusammenhang herzustellen.
Anders verhält es bei dem Beitrag von Danielle Vallet-Kleiner. Auf dem Umweg über das Gebäude, das 1779 fertig gestellte Fridericianum, nähert sich die Künstlerin der Aufklärungszeit: Sie hat ein Stück der unverputzten (vorrevolutionären) Mauer im Keller fotografiert, auf der sie mit Blattsilber eine Leiter markierte. Unter dem ins Riesenhafte vergrößerten Foto scheint sich nun die Leiter real fortzusetzen. Historie und Gegenwart werden miteinander verbunden. Auch FeIice Varini hat punktgenau auf den Ort zugearbeitet: In der Eingangshalle hat er auf die Wände in der Weise ein (sich verbreiterndes) bruchstückhaftes rotes Band aufgemalt, daß von einem Punkt in der Rotunde aus das Band sich zum Kreis schließt.
Patrick Tosani schließlich zeigt Fotokästen, in denen die präzisen Bilder von Alltagsdingen (Absätze und Tamboure) zu Skulpturen erhoben werden. Und Jean-Pierre Bertrand spielt mit dem Farbenwechsel im Flaggenformat.
Eine konzeptuelle, sinnlich eher sich verweigernde Ausstellung, in deren Licht die Werkschau des konsequent abstrakten Malers Pierre Soulages (eine Etage höher) geradezu üppig und bildhaft scheint. Unterstellungen, wie sie aus dem zuständigen hessischen Ministerium zu hören waren, ein Profil der Kunsthalle Fridericianum sei noch nicht zu erkennen, treffen nicht zu. Von der Eröffnungsausstellung „Schlaf der Vernunft‘ über „Rot Gelb Blau“, die Werkschauen Richard Paul Lohse und Pierre Soulages bis hin zu „Reflexion“ ergibt sich eine klare und strenge Linie mit einem eindeutigen Bekenntnis zu konstruktiver, konzeptueller und philosophisch begründeter Kunst. Ein Temperamentwechsel zwischendurch bekäme der Kunsthalle gut.

HNA 10. 3. 1989

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