Ein unerwartetes Wohnzimmer

1992 – Ilya Kabakov: Die Toilette

Wir entfliehen der Welt, um im Museum das zu sehen, was die Wirklichkeit nicht zu bieten hat. Das Außergewöhnliche zieht uns an, und vom Museum erwarten wir, dass das Gezeigte schön reizvoll oder perfekt ist. Ilya Kabakov, der als Künstler in der Sowjetunion zur Genüge erfahren hat, was es heißt, auf Erwartungen von außen reagieren zu müssen, hat sich geradezu darauf spezialisiert, nicht das zu bieten, womit die Besucher rechnen. Im Kasseler Kunstverein präsentierte Kabakov eine Ausstellung, die so aussah, als hätte sie der Künstler kurz vor der Fertigstellung fluchtartig verlassen. Manches war noch nicht vollendet, überall lagen Papierschnitzel und Abfall herum. Auch die Ausstellung selbst unter dem Titel „7 Ausstellungen eines Bildes“ machte auf den ersten Blick keinen überzeugenden Eindruck. Wohl konnte man sieben Bildvorschläge betrachten. Den Hauptteil machten aber Dialogtexte von Besuchern aus, die man auf kleinen Schrifttafeln lesen konnte. Es waren die üblichen Vernissage-Gespräche mit Mutmaßungen über die weißen Bilder, die Kunst und die Leute in der Ausstellung.

Der Künstler, der in einer Gesellschaft groß geworden war, in der nichtkonforme Kunst unterdrückt wurde und in keine Tradition im Umgang mit moderner Kunst bestand, dachte laut und sichtbar über die Bedingungen zeitgenössischer Kunst nach. Indem er den Positionen weiten Raum gab, die sich erst gar nicht auf die Kunst der Moderne einließen, bestätigte er scheinbar die Vorurteile. Zu diesen Vorurteilen gehört auch die Meinung, die Künstler würden nicht mehr sorgfältig arbeiten und nichts richtig fertig stellen. Also hinterließ Kakakov im Raum ein kleines Chaos. Das löste sich vor den Augen der Besucher erst dann auf, wenn sie die Ironie und den Humor in dieser Arbeit erkannten.

Auch die Besucher der documenta IX überraschte Kabakov: Im rückwärtigen Hof des Museums Fridericianum hatte Kabakov ein Toilettenhaus errichten lassen. Ein schlichter Bau, wie man ihn vor allem aus den Weiten Russland kennt. Man ging von hinten auf das Gebäude zu. Rechts war der Zugang für Frauen, links für Männer – durch schlichte russische Buchstaben markiert. Dem Eingang näherte man sich jeweils durch einen Gang, der durch eine Sichtschutzmauer gebildet wurde.

Gingen die Besucher nach Geschlechtern getrennt in das Toilettenhaus, dann quittierten sie mit großer Heiterkeit, dass sie sich in dem Gebäude wieder trafen, denn Kabakov hatte die Trennwand zwischen den Frauen- und Männerklos geöffnet. Die eingebauten Plumpsklos waren durch Wände in Kabinen aufgeteilt. Allerdings waren sie wie in der russischen Realität nach vorne offen. Insgesamt aber war das Haus wie eine russische Zweizimmer-Wohnung eingerichtet – Tisch und Sofa, mit Herd und Laufstall und mit Bildern an den Wänden. In der Wohnung herrschte Unordnung. Auch hier entstand der Eindruck, als hätten die Bewohner ihr Zuhause fluchtartig verlassen. Es ist weder abgeräumt noch aufgewaschen.

Zwei Dinge hatte Kabakov zusammengeführt, die im russischen Alltag unvereinbar scheinen, die aber sehr viel miteinander zu tun haben: Das russische Toilettenhaus ist normalerweise ein gemiedener Ort, hässlich und verkommen. Die russische Wohnung hingegen ist eine Zufluchtsstätte, die bei aller Enge Geborgenheit verheißt. Indem Kabakov die Wohnung in das Toilettenhaus versetzte, verdeutlichte er, wie primitiv im Grunde doch die meisten wohnen müssen. Das „Wohnklo“ wurde in dieser Installation Wirklichkeit. Aber auch das wurde deutlich: So sehr der Staat im öffentlichen Leben für bestimmte Ordnungen (die Trennung der Geschlechter) sorgt, so wenig kann er verhindern, dass seine Vorgaben im privaten Bereich ohne Bedeutung sind. Dass in dieser Arbeit auch eine Abrechnung mit der öffentlichen Ordnung und der Bürokratie steckt, ließ Kabakov dadurch spürbar werden, dass nach seinem Konzept das Toilettenhaus jeden Mittag für eineinhalb Stunden geschlossen werden sollte.

Das Motiv des Toilettenhauses muss damals in der Luft gelegen haben. Noch zwei andere Künstler näherten sich dem Thema an: Attila Richard Lukacs hatte in die Karlsaue ein innen bemaltes Altberliner Pissoir gestellt. Und auch zu Mike Kelleys bedrückender Installation gehörte ein transportables Klo.

Aus: Meilensteine – documenta 1-12

Schreibe einen Kommentar