Der in Frankfurt rekonstruierte documenta-Raum von E. W. Nay
Ohne Zweifel ist der rekonstruierte Raum aus der documenta III (1964) das Zentrum und der Höhepunkt der Nay-Ausstellung in der Frankfurter Kunsthalle Schirn. Dabei ist der Raum mit den schräg unter der Decke hängenden Bilder eigentlich ein Fremdkörper in der Ausstellung. Denn die drei großformatigen Augenbilder mit ihrem expressiven Gestus und den improvisierenden Übermalungen haben wenig mit Nays späten Bildern zu tun, die grafisch und flächig wirken und in denen die Farben klar den Formen zugeordnet sind.
Diese systematischen Farb- und Formuntersuchungen lassen unwillkürlich an die späten Scherenschnitt-Collagen von Henri Matisse denken: Gelb, Rot und Blau in Girlandenverschlingungen auf Weiß, Blau und Weiß auf Rot oderGelb und Weiß auf Ocker. Die Form- sind zugleich Bewegungsstudien. Die Bilder sind voller Dynamik, zumal Nay oftmals bestimmte Formen- und Farbansätze seriell variierte. Das Spätwerk ist in seiner Strenge und Klarheit überraschend.
Nimmt man die 84 Filzstiftzeichnungen von 1965 bis 1968 hinzu, die als ein geschlossener Block präsentiert werden, dann wird offenbar, dass Ernst Wilhelm Nay in seinen letzten Lebensjahren einen Neuansatz ausprobierte. Er war wieder zum Suchenden geworden, der aus der Linienstruktur Kompositionen entwickelte, die selbst dann farbig gedacht waren, wenn Nay nur die schwarzen Umrisse zeichnete. Überraschend ist auch an den Blättern, dass zuweilen die chiffrenartigen Formen sich als surreale Kürzel zu erkennen geben und dass sich manchmal ganz plötzlich eine Gegenständlichkeit ergibt.
Das Spätwerk ist ein eigener, allerdings auch kleiner Kosmos. Die ausgewählten Bilder aus der Zeit von 1964 bis 1968 hätten kaum eine der Schirn gemäße Ausstellung ergeben, wäre nicht noch der documenta-Raum hinzugenommen worden. Für die drei documenta-Bilder gilt das alles nicht, was eben zum Spätwerk gesagt wurde. Die Scheiben und Augen prägen ebenso die Kompositionen wie die kraftvollen Zu- und Übermalungen. Obwohl 1964 entstanden, gehören sie noch zu der davor liegenden Werkphase.
Die Idee zu dem documenta-Raum mit den unter der Decke hängenden Bildern stammte von Arnold Bode, der in der documenta III vorführen wollte, dass auch die zeitgenössische Malerei ihren Ort habe und brauche. Es bedurfte hartnäckiger Überredungskunst, um Nay für diesen Plan zu gewinnen (Bilder im Raum). Nay hatte nicht nur formale Vorbehalte, hatte nicht nur Angst, missverstanden zu werden, sondern er hatte auch ganz praktische Einwände. Zwar hatte er 1956 ein großformatiges Bild für Freiburg geschaffen, er bevorzugte aber das kleinere Tafelbild, da er in seiner Wohnung gar nicht den entsprechenden Platz hatte.
Im Katalog schildern das die Erinnerungen von Elisabeth Nay-Scheibler sehr anschaulich: Erst einmal musste sich Nay die drei vier mal vier Meter großen Leinwände in Belgien beschaffen. Dann musste er im Atelier improvisieren. Entweder malte er auf die auf dem Fußboden liegenden Leinwände oder er befestigte sie an der Wand und ließ einen Teil auf dem Boden herunterhängen. Um die Bilder betrachten zu können, musste auf einen Heizkörper unterhalb des Fensters steigen.
Die Widerstände waren groß, gleichwohl hatte Bode mit seiner Vision recht. Die unter der Decke hängenden Bilder überwältigten das Gros der Besucher. Bode hatte Nay zu einer herausragenden Leistung angetrieben. Allerdings wurden dabei die Verhältnisse auf den Kopf gestellt: Ursprünglich brauchten nicht die Bilder ihren Ort, sondern brauchte der so zugeschnittene Raum die Malerei: Die Inszenierung ordnete sich die Kunst unter.
Trotzdem war Bodes Vision richtig, wie jetzt in Frankfurt die Rekonstruktion beweist: Durch die Schräghängung werden die drei quadratischen Bilder zu einem fortlaufenden Band. Sie verschmelzen zu einer Einheit – und zwar viel mehr und intensiver, als wenn sie in Form eines Triptychons an der Wand präsentiert worden wäre: Aus den drei isolierten Farbklängen wird ein Dreiklang. Es entsteht die Illusion eines fast geschlossenen Deckengemäldes. Die Vorbehalte verlieren an Kraft: Bode wusste, was in Nay steckt.
Den Schönheitsfehler, dass man, hat man den Raum durchschritten, bei der Umkehr nur die Kanten und Rückseiten der Bilder sieht, nimmt man in Kauf. Nays Gemälde riefen nicht nach dieser Hängung. Nays Malerei expandierte auch nicht so sehr in den Raum, wie es 1964 bei Emilio Vedova oder Bernard Schultze der Fall war. Aber die Möglichkeit, die Arnold Bode erkannt hatte, steckte ihn ihnen. Sie taug(t)en zur Deckenmalerei.
26. 1. 2009
Die Rekonstruktion des Nay-Raumes in Frankfurt war Anlass für eine ausführliche Recherche zu Bodes Zusammenarbeit mit Nay, zu Bodes Inszenierierungskunst und zu der Wirkung und zum Schicksal der drei Gemälde. Die Recherchen sind in dem Buch „Die Kunst der Inszenierung oder Als Arnold Bode Ernst Wilhelm Nay in den Himmel hob“ zusammengefasst, das im August 2009 erschien.