Die Lust, sich selbst zu widersprechen

Carolyn Christov-Bakargiev stellte sich im Kasseler Kunstverein der Diskussion

Es war ein Abend voller Überraschungen. Die größte war vielleicht die, dass die künstlerische Leiterin der documenta 13, Carolyn Christov-Bakargiev (51), geduldig und gelassen auf den etwas chaotischen Diskussionseinstieg im überfüllten Saal des Kasseler Kunstvereins reagierte. Nach anfänglicher Verwirrung half sie mit, die verschlungenen Formulierungen zu entwirren und die Fragen herauszuschälen, um darauf antworten zu können. Und dabei offenbarte sich die zweite Überraschung: Die derzeit noch in Turin tätige Kunsthistorikerin hatte wie schon bei der Pressekonferenz nach ihrer Berufung in Deutsch eine Entschuldigung dafür formuliert, dass sie nicht in Deutsch, sondern in Englisch antworten werde. Das machte sie auch an diesem Abend. Doch wiederholt griff sie zu deutschen Formulierungen und Wörtern, wenn sie das Gefühl hatte, sie und ihre Dolmetscherin hätten den Gedanken noch nicht auf den Punkt gebracht. Das waren keine Höflichkeitsfloskeln, sondern bewundernswerte Versuche, den Bedeutungsgehalt herauszuarbeiten.

Das heißt: Carolyn Christov-Bakargiev hat in der Zwischenzeit nicht nur Fortschritte im Erlernen der Sprache ihres Gastlandes gemacht, sondern sie hat sich sogleich die Fähigkeit erworben, die Worte auf ihren Sinn abzuklopfen. Für alle hörbar wurde das, als sie gefragt wurde, ob Harald Szeemann (documenta 5) ihr Vorbild sei. Sie wendete das Wort hin und her: Vor-Bild – Bild vor und kam zu dem Ergebnis: Vorbild nicht, sondern Inspiration.

Die dritte Überraschung war, dass sie offenbar durch nichts zu irritieren oder zu überraschen ist. Obwohl sie dank ihrer vielfältigen Erfahrungen abgeklärt ist, antwortet sie spontan und temperamentvoll. Sie bestätigte das Bild, das man bei ihrem ersten Auftritt in Kassel gewonnen hatte: Sie ist offen und sympathisch, umfassend informiert, bereit zum Lachen, aber nicht, wie sie mehrfach betonte, ironisch. Sie ist an der Welt und deren Problemen genauso interessiert wie an der Kunst. Deshalb geht es oft, wenn sie grundsätzlich wird, ins Philosophische. Aber sie ist schwer zu fassen. Denn immer wieder, wenn andere versuchen, sie auf eine Position festzunageln, entzieht sie sich dem Zugriff und betont ihre Lust, sich selbst zu widersprechen. Ja, sie liebt die Paradoxien in der Welt und in sich.

Diese Haltung ist nicht (nur) als Ausflucht zu verstehen. Nein, mehrfach macht sie deutlich, dass zur Welt und zur Kunst die Paradoxien gehören. Nur so ist verstehen, dass viele Künstler, wie sie an dem Abend sagt, in der globalen Finanzkrise etwas Positives sehen. Das heiße aber nicht, dass die Künstler Zyniker seien und die sozialen Konsequenzen der Finanzkrise mit Freude betrachteten. Die Auswirkungen der Krise seien eine völlig andere Sache.

Es ist zu spüren, wie sich Carolyn Christov-Bakargiev bemüht, traditionelle Denkstrukturen aufzubrechen. Schon unmittelbar nach ihrer Berufung zur documenta-Leiterin hatte sie das Denken in der Gegensätzlichkeit von Zentrum und Peripherie für überholt erklärt. Europa habe auch im Bereich der Kunst seine Rolle als Zentrum verloren – aber gerade deshalb (eine weitere Paradoxie) habe die documenta ihre Position behauptet – als eine zentrale Ausstellung an einem Ort der Kunstperipherie. Die Pole Zentrum und Peripherie sind demnach überall zu finden – auch in uns selbst.

Ein anderes Klischee, gegen das sich die documenta-Leiterin wehrt, ist die stete Suche nach dem Neuen. Nach ihrer Definition kann derjenige als konservativ eingestuft werden, der sich ständig an das Neue klammert. In ihren Ausstellungen, zuletzt im vorigen Jahr in der Sydney Biennale, hat sie bewiesen, dass sie sowohl nach hinten als nach vorne blickt: Welche Kunst ist im Augenblick – und nur die Gegenwart zählt – die wichtige und inspirierende? Da kann das Neue genauso aufregend sein wie das Alte.

Ebenfalls für erledigt hält sie das Denken, das kulturelle Regionen unterscheidet und das kulturelle Plattformen thematisiert. Das alles war ihrer Ansicht nach in den 1990er-Jahren aktuell, spiele aber jetzt für die Kunst keine Rolle mehr.

Carolyn Christov-Bakargiev geht es um das Grundsätzliche. Sie spricht nicht über Kunst und Politik. Wenn sie aber sagt: „Alles, was wir tun, ist darauf ausgerichtet, uns selbst zu verstehen“ oder: „Künstler fragen, warum ist leben besser als nicht zu leben“, dann spürt man ihren Sinn für das Existenzielle. So wird eine sehr politisch verstandene Ausstellung zu erwarten sein. Immerhin hatte sie schon vorher gesagt, dass jedes Kunstwerk politisch sei.

Natürlich berief sie sich wieder, als sie danach gefragt wurde, auf die Künstler der Arte Povera, über die sie bekanntermaßen ein Standardwerk verfasst hat, auf Mario Merz, Michelangelo Pistoletto und Joseph Beuys. Aber sie machte auch klar, dass sie nach dem suche, was sie bisher nicht verstehe. Die Herausforderung des Unbekannten (nicht des Neuen) ist also für sie die große Aufgabe beim Erarbeiten der Ausstellung.

Sie lässt sich sehr stark auf Kassel ein, um die Stadt kennen zu lernen, die sie vorher nur als eine Stadt der Hotels, Cafés und des Kunstbetriebs kannte. Nun lässt sie sich intensiv von Prof. Christian Kopetzki durch die Stadtteile führen. Im Moment wehrt sie sich aber eher gegen die Vorstellung, Künstler zu Projekten einzuladen, die sich mit der Stadt und ihren historischen Schichten auseinandersetzen. Das, fürchtet sie, könne auch provinziell werden. Aber sicher scheint zu sein, dass sie etliche leer stehende Gebäude für die documenta 13 nutzen will. In Kassel gebe es so viele Leerstände, dass sie gar keine neuen Gebäude bauen lassen müsse, meinte sie.

26. 3. 2009

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