Die Entdeckung von Laborgeräten und Laboraufzeichungen aus der Zeit um 1700, die belegen, dass Landgraf Karl schon vor dem Bau der Kaskaden Wissenschaftler experimentieren ließ, um mit hohem Druck Fontänen zu erzeugen, hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Wasser- und Gartenkunst im und unter dem Herkulesbauwerk als ein Zusammenwirken von Naturwissenschaft, Baukunst und Natur begriffen wird. Die Zeugnisse der naturwissenschaftlichen Forschung verstärken die Alleinstellungsmerkmale der 300 Jahre alten Anlage im Bergpark. Deshalb ist die verständliche Entscheidung getroffen worden, im Jahr 2011 den Bergpark Wilhelmshöhe als die zentrale Gartenanlage bei der Unesco für die Welterbeliste anzumelden und die beiden anderen Park- und Schlossanlagen – Karlsaue und Wilhelmsthal – lediglich als Satelliten mitlaufen zu lassen. Der Icomos-Kongress (24.-26. 5. 2009) in Kassel zum Welterbeantrag bestätigte diese Richtungsentscheidung.
Die Tagung förderte eine Fülle neuer Erkenntnisse zu Tage, sie machte aber noch mehr offenkundig, dass erheblicher Forschungsbedarf besteht:
So weiß man viel zu wenig über Francesco Guerniero, der den großartigen Entwurf der Kaskadenanlage schuf, der es auch verstand, sich mit Hilfe seines Druckwerkes allgemein bekannt zu machen, von dem sonst aber kaum Arbeiten bekannt sind.
Auch ist nicht gesichert, ab wann und unter welchen Bedingungen Kasseler Bürger die Wasserspiele im frühen 18. Jahrhundert aus der Nähe erleben und später durch den Bergpark wandern durften.
Weiter erforscht werden muss das Feld der Experimente vor dem Bau der Wasserspiele.
Und zudem ist zu wenig bekannt, welche anderen Anlagen sich die Kasseler Kaskaden zum Vorbild nahmen.
Schließlich müsste das Figurenprogramm für das Oktogonschloss näher untersucht werden.
Die Tatsache, dass Gregor Weber, ehemals Leiter der Gemäldegalerie Alte Meister und jetzt Direktor für die Bildende Kunst im Amsterdamer Rijksmuseum, als Referent ausfiel, führte dazu, dass die Auseinandersetzung der Malerei mit dem Bergpark zu kurz kam. Dabei belegen die acht Gemälde, die Jan und Rymer Nickelen zwischen 1716 und 1730 von der Kaskadenanlage anfertigten, dass von Anbeginn an die künstlerische und speziell malerische Reflexion der großartigen Gartenanlage im Grunde Teil des Gesamtprojekts war. Die Gemälde beweisen auch, dass für Ladgraf Karl Guernieros Grundidee, die Kaskadenanlage bis zum Weißensteinplateau auszuweiten, bis zu seinem Tod lebendig blieb.
Zur Einmaligkeit von Wilhelmshöhe gehört außerdem ein völlig anderer Aspekt: Der Herkules und die Kaskaden sind nicht nur ein Wahrzeichen der Stadt, dass man sofort wahrnimmt, wenn man auf der Autobahn von Norden oder Süden in das Tal herunterfährt, in dem Kassel liegt. Vielmehr hat die am Hang des Habichtswaldes angelegte Achse über 300 Jahre die Stadtentwicklung geprägt. Die Stadt wuchs allmählich an den Bergpark heran und machte die fast sieben Kilomter lange Achse zu ihrem Rückgrat.Wenn man so will, wurde die von Guerniero entwickelte Vision im übertragenen Sinn vollendet und übesteigert. Zum sinnbildlichen Abschluss der Kaskadenachse wurde der Brüder-Grimm-Platz mit den beiden Torwachtgebäuden. Wo sonst ist eine Stadt so konsequent und geradlinig auf ein weit außerhalb liegendes Landschaftszeichen zugewachsen?
Fasst man die Ergebnisse der Tagung sowie anderer Forschungen und Diskussionen zum Herkules-Bauwerk und Bergpark zusammen, dann erscheint die durch drei Jahrhunderte erhaltene und weiterentwickelte Anlage als ein Gesamtkunstwerk, das sich durch folgende Facetten auszeichnet:
1. Die vornehmlich an italienischen Vorbildern orientierten Wasserspiele übertreffen die zuvor geschaffenen Anlagen dadurch, dass sie größer angelegt sind und durch die Bekrönung durch das Oktogon auf der obersten Kante des Berghanges zum überragenden Zeichen für die Residenz und Stadt wurden. Außerdem werden durch die Hanglage der Kaskaden und des Bergparks die natürlichen Fließkräfte des Wassers begünstigt.
2. Die Wasserspiele der Kaskaden werden seit 300 Jahren aus den gleichen natürlichen Quellen, ohne den Einstz von Pumpen, gespeist. Daher gehört das Plateau westlich des Herkules, in dem das Zuleitungssystem sowie das Vorwerk Sichelbach liegen, mit zu der Kaskadenanlage. Auch wenn die Wasserspiele nicht so groß dimensioniert werden konnten, wie es Guerniero gewollt hatte, wurden sie im Laufe des 18. und 19. Jahrhundert im englisch-romantischen Sinne durch neue attraktive Anlagen (Teufelsbrücke, Steinhöfer Wasserfall, Aquädukt und Neuer Wasserfall) ergänzt. Diese systematische Ausweitung ließ jenseits der barocken Ursprungs-Strenge eine weitläufige Parkanlage entstehen, die zum Spazieren einlädt.
Erst die Fontäne lenkte den Blick auf die barocke Achse zurück. Im 18. und 19. Jahrhundert ist ein vielgestaltiges System aus Kaskaden, Wasserfällen, Springbrunnen, Teichen und Seen sowie natürlich scheinenden Bachläufen entstanden. Wohl war der Traum von Landgraf Karl, die Wasserspiele Tag und Nacht laufen zu lassen, unerfüllbar. Die murmelnden, plätschernden und manchmal rauschenden Bachläufe sorgen aber dafür, dass in dem Park das Wasser immer in Bewegung ist.
3. Die Schaffung der Wasserspiele basiert auf langjährigen Überlegungen und Experimenten, die Landgraf Karl bereits vor seiner Italienreise (1699/1700) anstellte und die ihn als einen weiteren hessischen Fürsten ausweist, der sich intensiv mit den Naturwissenschaften beschäftigte. Seine Gründung des Collegium Carolinum (1709) sowie die Experimente mit Wasserdampf und Wasserdruck (Denis Papin und Nachfolger) müssen noch genauer im Hinblick auf die Wasserspele im Bergpark untersucht werden.
4. In Francesco Guerniero fand Landgraf Karl einen Baumeister und Konstrukteur, der es vermochte, im Sinne der barocken fürstlichen Repräsentation die Kaskaden, das Oktogon und die darauf gegründete Pyramide mit dem Herkules so zu gestalten, dass sie die Sendung und Legitimität es Herrschers aus der antiken Götterwelt herleiteten. Indem Karl nicht eine Statue von sich selbst, sondern den unbezwingbaren und tugendhaften Göttersohn Herkules als Riesen auf die Pyramide stellen ließ, schuf er ein zeitloses Sinnbild des zum Frieden bereiten Schutzherrn der in seinem Machtbereich lebenden Menschen. Zugleich machte er mit der Figur des Herkules Farnese, die Lysipp um 320 v. Chr. geschaffen haben soll und die als römische Kopie 1546 in den Caracallathermen gefunden wurde, eine Schöpfung der Antike zu einem Leitsymbol der neuzeitlichen europäischen Kultur.
5. Noch bevor die Kaskaden und das Oktogon fertiggestellt waren, ließ Francesco Guerniero seine Pläne und Visionen für das Bauwerk 1705 als grafische Folge drucken und vervielfältigen. Das erste Druckwerk sowie spätere Auflagen (1706, 1727, 1749) trugen dazu bei, den Ruhm der Anlage zu mehren. Gleichzeitig kamen diese Veröffentlichungen dem Anspruch des Landgrafen entgegen, sich im Konzert der europäischen Fürsten machtvoll zu präsentieren. Karl seinerseits trug dazu bei, sein Werk mit künstlerischen Mitteln zu propagieren, indem er die acht Gemälde zur Kaskadenanlage von Jan und Rymer Nickelen schaffen ließ, die frei darin waren, die Ursprungsvisionen von Guerniero auszuschmücken und als vollendet darzustellen. In gleicher Weise diente das 1709 angefertigte, 65 Meter lange Modell der Kaskadenanlage, für das 1780 ein eigenes Haus entworfen wurde, dem Zweck, die Guernierosche Vision zu veranschaulichen und sie aller Welt kund zu tun. Auch mit Hilfe eigens geprägter Medaillen wollte der Landgraf seinen universalen Gestaltungsanspruch manifestieren.
6 Das barocke Herkulesbauwerk verweist nicht nur auf die Inszenierungskunst des Theaters. Die mit dem Oktogon geschaffene Illusionsarchitektur eines offenen, unbewohnten Schlosses, in dem Wind und Wasser freies Spiel haben, war auch eine Vorwegnahme jener romantischen Ruinenarchitektur, die rund 80 Jahre später in der Löwenburg und dem Aquädukt ihre Entsprechungen fanden.
7. Ausgehend vom Oktogon und den Kaskaden sind die Wasserspiele und der spätere Bergpark als eine geistig-philosophische Landschaft angelegt worden. Zwar sind nahezu alle der im Oktogon sowie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Bergpark aufgestellten Statuen griechischer und römischer Götter sowie von Philosophen (überwiegend aus Holz) verloren gegangen, doch einzelne Bauwerke (Halle des Sokrates, Merkurtempel, Pyramide, Virgils Grab) künden davon. So präsentiert sich seit Ende des 18. Jahrhunderts der Bergpark als ein Spiegel der Kulturen – beginnend bei der griechisch-römischen Antike über die barocke, klassizistische und romantische Bau- und Gartenkunst bis hin zu asiatischen Reminiszenen wie der chinesischen Pagode. Dazu gehören auch das Ballhaus und die Stahl-Glas-Konstruktion des Gewächshauses.
8. Unvergleichlich ist auch, der nahtlose Übergang von geformter Garten- und Parklandschaft in den Lanschaftsumraum mit seinen Weide- und Waldflächen.
9. Obwohl unter Landgraf Wilhelm IX. der Bergpark nach englischen Vorstellungen ergänzt und umgestaltet wurde, ließ er den Mittelbau von Schloss Wilhelmshöhe – nachdem er den Plan eine Ruinenbaus verworfen hatte – genau in die barocke Achse des Herkules und der Kaskaden stellen. Der Portikus verweist, blickt man von unten, exakt auf den Herkules. Seit 1974 birgt das Schloss die Gemäldegalerie Alte Meister mit den Hauptwerken niederländischer und flämischer Malerei des Barock sowie die Antikensammlung, die insbesondere unter Landgraf Karl ausgebaut wurde und die damit in direkter Beziehung zum Figurenprogramm des Herkules und der Kaskden steht.
10. Durch den Ausbau der geradlinigen Wilhelmshöher Allee (4,5 Kilometer Länge) ab 1767 wurde die barocke Achse bis zur Grenze der damaligen Oberneustadt verlängert. Die Allee verstärkte die Wirkng der von den Kaskaden ausgehende Achse enorm. Noch viel entscheidender aber war, dass die so entstandene, fast sieben Kilometer lange Achse die Richtung der Stadtentwicklung für die nächsten 200 Jahre vorgab. Keine andere Stadt hat in ihrer Geschichte eine barocke Kaskadenanlage zum Zielpunkt ihrer Entwicklung gemacht.
11. Die Wilhelmshöher Allee stellt auch eine Fernbeziehung zur von 1702 bis 1710 erbauten Orangerie und der sich von dort aus öffnenden Karlsaue her, die nach wie vor über eine barocke Grundstruktur verfügt, aber im Detail nach englischen Regeln gestaltet wurde. Ebenfalls durch eine (teilweise gerade) Achse mit dem Schloss Wilhelmshöhe sind der Park und das Schloss Wilhelmsthal verbunden, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts geschaffen wurden.
12. Die Vorgaben des Herkulesbauwerks und des Bergparks haben bis in unsere Zeit Künstler zur Auseinandersetzung herausgefordert: 1982 ließ Claes Oldenburg eine überdimensionale Spitzhacke genau dort am Fuldaufer aufstellen, wo die Verlängerung der barocken Achse der Kaskaden enden würde. Oldenburg bezog sich auch auf den Herkules-Mythos und meinte, der über der Stadt stehende Halbgott habe die Spitzhacke dorthin geschleudert. Fünf Jahre zuvor hatte Horst H. Baumann zur documenta 6 seine Laser-Installation geschaffen. Mit den Laser-Strahlen verknüpfte er unter anderem drei oktogonale Bauten, die für Landgraf Karl zentrale Bedeutung hatten: Den Zwehrenturm als Ausgangpunkt der Licht-Installation hatte er 1709 zur Sternwarte ausbauen lassen. Und das Oktogonschloss sowie der Turm der Orangerie hatte er erbauen lassen.
13. Das Gesamtkunstwerk Herkulesbau und Bergpark wird also nicht nur im Sinne der historischen Anlage und Weiterentwicklung gepflegt, sondern bis in unsere Zeit durch weitere Werke und Umdeutungen ergänzt. Dazu gehört auch die Baumallee aus dem Beuys-Projekt 7000 Eichen, die in Höhe Prinzenquelle beginnt und zur Waldschule führt und damit direkt zum Bergpark hinleitet.
Unabhängig von der Frage, ob die Unesco die Kasseler Gartenanlage auf die Welterbeliste nimmt, müsste es bei der inneren Umgestaltung des Schlosses Wilhelmshöhe vornehmste Aufgabe sein, in einen Saal oder gar einem Flügel im Mittelbau die Vielzahl der Aspekte der Gesamtanlage sichtbar zu machen. Ein erster Ansatz war im Florasaal zu sehen, in dem die acht Gemälde von Jan und Rymer Nickelen sowie die zwei einzi erhaltenen Holzskulpturen aus dem Oktogon vereinigt wurden. Die Schau müsste um die Herkules-Darstellungen der Antikensammlung, die Medaillen, die zur Erinnerung an die Wasserspiele geprägt wurden, die Objekte und Dokumente zur Wasserkunst aus dem Astronomisch-Physikalischen Kabinett sowie die zahlreichen Gemälde und Stiche zur Rezeption der Garten- und Schlossanlage ergänzt werden. Auch sollten die verloren gegangenen Objekte, soweit es Unterlagen zu ihnen gibt, dokumentiert werden.
29. 5. 2009