Abbild – Abdruck – Transformation

Zu einer Werkgruppe von Ina Holitzka

Ina Holitzka in der Ausstelung Mass-Nahmen
Vorbemerkung

Ein Merkmal des zeitgenössischen Ausstellungsbetriebes ist die Installation vor Ort. In vielen Fällen werben die Veranstalter damit, dass die Beiträge der Künstler eigens für die Ausstellung und speziell für diese Räume konzipiert worden seien. Die Künstler reagierten mit ihren Arbeiten auf die Räume und veränderten sie, heißt es. Untersucht man diese Installationen näher, stellt man jedoch oft fest, dass dies nur zu einem Teil stimmt. In der Tat ist in der gegenwärtigen Kunst die Tendenz groß, das isolierte Werk an der Wand oder auf dem Podest zu überwinden und in den Raum direkt hineinzugreifen. Doch was als raumverändernde Arbeit vorgestellt wird, ist meist nur ein in den Raum projiziertes dreidimensionales Bild, das auf die Rahmenbedingungen ausgerichtet ist. Die Künstler nehmen das Gesamtvolumen gezielter in Anspruch, um so ihre Arbeit besser in Szene zu setzen. Manchmal setzen sie dem ihnen zur Verfügung gestellten Raum auch lediglich ihren Stempel auf und gliedern ihn nach ihren Vorstellungen.

Weit seltener lassen sich Künstler wirklich auf den Raum selbst, seine Struktur und Maße ein und entwickeln erst aus ihm ihre Arbeiten. Zu diesen Ausnahmen zählen, um ein paar Beispiele zu nennen, Michael Asher, Daniel Buren, Inge Mahn, Reinhard Mucha und – Ina Holitzka. Bemerkenswert dabei ist, dass gelegentlich diese Auseinandersetzungen mit konkreten architektonischen Strukturen auch dann fortdauern, wenn der Raum bereits verlassen ist. Anders ausgedrückt: Manchmal intensiviert sich die Beschäftigung so sehr, daß die Arbeit ihre eigentliche Spannung erst dann entwickelt, wenn sie an einen anderen (Ausstellungs-)Ort übertragen wird. Dies gilt im besonderen Maße für das Werk von Ina Holitzka.

Jede Form von Kunst ist eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, eine Spiegelung der Realität. Dieser Behauptung widerspricht unser traditionelles Realismus-Verständnis, weil das eingeengt ist auf jene Arbeiten, die in erkennbarer Weise sichtbare und vertraute Formen abbilden. Dabei vernachlässigt der Realismus-Begriff völlig die Tatsache, dass die malerische oder bildhauerische Abbildung durchweg eine Umsetzung, eine Transformation einer Bildvorstellung auf eine materielle Ebene bedeutet, die nichts mit der ursprünglichen Stofflichkeit zu tun hat. Weder die Ölfarben haben substantiell etwas mit der dargestellten Landschaft gemein noch der Marmor etwas mit dem Körper, nach dem er geformt worden ist. Unser Realismus-Denken beschränkt sich auf Farb- und Formillusionen und setzt Abstraktion voraus.

Vor allem in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts wurde jedoch ein neuer Zugang zur Realität erschlossen. Indem Künstler wie Joseph Beuys bewußt machten, dass nicht nur die in Form gebrachten Materialien Sinnbilder ergeben und Botschaften transportieren können, sondern dass die Dinge und Stoffe selbst Ausdruck und Sprache besitzen und dass man sie durch bestimmte Konstellationen zum Reden bringen kann, entfiel der Zwang zur Übersetzung, zur Transformation. Das Verhältnis zur Wirklichkeit wurde damit direkter.

Dem Raum die Maske abnehmen

Das Werk von Ina Holitzka ist keiner dieser beiden gegensätzlichen Seiten zuzuordnen, es bewegt sich dazwischen. Einerseits lässt die Künstlerin die realen Dinge, mit denen sie arbeitet, direkt sprechen, andererseits transformiert sie deren Formen und stoffliche Eigenarten in jeweils entgegengesetzte Aggregatzustände. Das Weiche wird hart, das Starre biegsam und das Unfassbare griffig. Das klingt nach reinem, willkürlichen Spiel, hat aber mit systematischen Formuntersuchungen ebenso zu tun wie mit den Gesetzmäßigkeiten überlieferter künstlerischer Techniken.

Den für ihre Arbeitsweise wichtigsten Impuls gewann Ina Holitzka aus einer Grunderfahrung der Bildhauerei: Wer mit Hilfe eines Gipsmodells eine Gussplastik gewinnen will, der muss am Ende die ursprüngliche Form zerstören; aus dem Negativ wird das Positiv, aus dem Abdruck das Original. Also entschloá sie sich, einen anderen Weg zu gehen, auf den Abguss zu verzichten und dem Modell wieder zu seinem Originalcharakter zu verhelfen. Indem sich ihr mit der Fotografie ergänzend eine Technik mit einem ganz verwandten Umkehrcharakter erschloss, verfügte sie nun genau über die Mittel, mit denen sie Räume aufschließen und analysieren und mit denen sie aus den Raumelementen eine maßstabsgetreue Bildsprache entwickeln kann: Die in einem Raum wirkenden Kräfte und sich entwickelnden Spannungen sichtbar machen, ihn in seiner wahren und ganzen Gestalt vorführen.

Ecke
Erst tastend, dann immer zielstrebiger und selbstsicherer begann Ina Holitzka, Räume zu erkunden und ihren wesentlichen Elementen die Maske abzunehmen. Mit Papier und Leim formte sie Ecken und Balken ab und mit Hilfe der kameralosen Fotografie (Fotogramm) ließ sie die Dinge sich nach dem Umkehrprinzip selbst abbilden. Dieser Entwicklungsgang muss hier nicht noch einmal im einzelnen beschrieben werden. Doch es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass sich Ina Holitzka damit für eine Arbeitsweise entschieden hatte, die den Widerspruch und seine fortgesetzte Aktivierung zum Prinzip erhebt, die von der Umkehrung der Formen lebt und so Einsichten in und hinter die Dinge erlaubt. Denn da, wo eine Ecke, ein Balken oder eine Säule abgeformt wird, entsteht ja nicht nur ein Abbild der äußeren Gestalt, sondern kann man auch die Form von der dem Betrachter abgewandten Seite, von innen, studieren.

Wenn Ina Holitzka sich auf einen Raum einlässt, dann tut sie es ausdauernd, über Wochen und Monate. Immer wieder können sich neue Aspekte, Zusammenhänge und Ausdrucksmöglichkeiten ergeben. Zu dem Zeitpunkt, da diese Zeilen geschrieben werden, ist der Werkkomplex noch nicht abgeschlossen, den Ina Holitzka vor mehr als eineinhalb Jahren in Angriff nahm, als sie die Einladung zu der Ausstellung „Oktogon II“ im Museum Wiesbaden erhalten hatte. Obwohl der Ausstellungsbeitrag, der sich genau auf den Raum bezog, der Ina Holitzka im Museum Wiesbaden zur Verfügung stand, in sich völlig abgeschlossen wirkte und die Besucher in den Bann zog, entstanden wesentliche Elemente erst nach der Ausstellung. Der Grund für diese lange Brenndauer ist darin zu sehen, dass sich in der Auseinandersetzung mit dem Raum, seinen Maßen und seinen architektonischen Eigenheiten auf der einen Seite ständig neue Einsichten ergeben und dass Ina Holitzka auf der anderen Seite mit jedem weiteren Schritt andere Möglichkeiten entdeckt, die Raumstrukturen abzuformen und umzuwandeln.

Es liegt nahe, Ina Holitzkas Arbeit einen architekturkritischen Ansatz zu unterstellen. Insbesondere der Wiesbadener Werkkomplex verführt zu dieser Sichtweise, weil die Schwächen der gegebenen Raumsituation wie die Auslöser für das gesamte Projekt erscheinen. Tatsächlich sind die analytischen Momente hervorstechend. Architekturstudenten könnten anhand dieser Arbeit eine Menge über die gebaute Wirklichkeit erfahren. Aber Architekturkritik ist nicht Ina Holitzkas Sache. Die Künstlerin lässt sich vielmehr auf Gestaltkräfte des Raumes ein, die sichtbaren und übersehenen, sie ortet die Spannungen und legt die verdeckten Strukturen auf, um daraus plastische Gebilde, Reliefs und Bilder abzuleiten, die in sich die Gesetzmäßigkeiten des Raumes tragen und zugleich ästhetisches Eigenleben entwickeln.

Insofern fußt Ina Holitzkas Arbeit auf einem stark konzeptuellen Ansatz: Erst das Wissen darum, dass die zarte, aufgefaltete Papierbahn aus der Abformung eines Balkens entstanden ist, führt dazu, dass der Betrachter nicht nur einen ästhetischen Reiz empfindet, sondern von einer vibrierenden Spannung erfasst wird. Das Abenteuer spielt sich im Kopf ab – als Nachvollzug des künstlerischen Prozesses. Wenn Ina Holitzka die Papierabformungen eines Balkens präsentiert, dann berichtetet sie nicht nur anschaulich von einer vorgefundenen Form. Dann seziert sie vielmehr ein Raumelement, klappt es gewissermaßen auf und führt es in einer Weise vor, wie wir es gewöhnlich nicht erleben – von innen.

Innen und außen

Damit sind wir beim Kern von Ina Holitzkas Schaffen. Wie die Malerei über die Jahrhunderte hinweg das Problem umkreist hat, auf einer Fläche räumliche Vorstellungen darzustellen, so bemühten sich Architekten, die schier unüberwindliche Grenze zwischen Innen und Außen zu überbrücken, Einblick und Durchblick zu ermöglichen und aufgrund von Gesetzmäßigkeiten jeweils auch die dem Betrachter abgekehrte Seite erkennbar oder nachvollziehbar zu machen. Trotzdem kommt man nicht darüber hinweg, dass man die Außenhaut des Raumes, in dem man sich befindet, normalerweise nicht sieht. In ihrem Wiesbadener Projekt entwickelte Ina Holitzka nun eine Technik, die es ihr erlaubte, Innen- und Außensicht zugleich verfügbar zu machen und aus der Grenzlinie zwischen beiden Bereichen, der Mauer mit ihren Fensteröffnungen, eine Schlüsselarbeit abzuleiten.

Um diesen Werkkomplex verstehen zu können, muá man die Raumkonstellation im Wiesbadener Museum kennen: Der von Theodor Fischer entworfene, 1915 fertiggestellte Bau, überrascht den heutigen Besucher ob seiner sehr gegensätzlichen Raumsituationen. Einer Fülle schmuckloser, rechtwinkliger Säle und Kabinette stehen einige architektonische Perlen gegenüber. In erster Linie sind da die oktogonalen Räume zu nennen, die dem Museumsbau zu seinem Charakter und der hier behandelten Ausstellung zu ihrem Namen verholfen haben. Sie geben dem Gebäude etwas Weihevolles. Auch das Kabinett, das Ina Holitzka für ihren Beitrag erhielt, hebt sich gegenüber der Reihe gesichtsloser Räume ab: Der rechteckige Raum öffnet sich mit seinen drei Fenstern in einem Halbrund zu einem kleinen Innenhof. So krönt eine Apsis den ansonsten nüchternen Museumsraum, verwandelt sich das Kabinett in einen Chor.

Innenraum Lattenzaun Spiegelwand

Vielleicht hätte sich Ina Holitzka gar nicht so intensiv auf diesen Raum eingelassen, wäre sie nicht unmittelbar auf eine Ungereimtheit gestoßen, auf ein Stück Architekturkosmetik. In dem Innenhof, in den man aus dem Chorraum blickt steht nämlich eine weiágestrichene Lattenwand. Offensichtlich empfanden die Museumsgestalter in der Nachkriegszeit den Ausblick auf die gegenüberliegende Wand als so ernüchternd oder unerfreulich (oder sollte etwas ganz anderes verborgen werden?), dass sie diese Sichtblende aufstellten. Der sicherlich billigste und schlechteste Weg, Korrekturen an architektonischen Gegebenheiten vorzunehmen, zumal diese Sichtsperre erst die Neugier an dem Verborgenen weckt und die Aufmerksamkeit ganz von dem Raum und seiner schlichten Schönheit abzieht, in dem man sich befindet. Die Fenster wurden auf diese Weise auf ihre Funktion als Lichtquelle reduziert.
Diese groteske Form der Architekturkosmetik forderte Ina Holitzka zwangsläufig heraus.

Sie setzte da an, wo der Bezug am offensichtlichsten war. Je länger nämlich die Blicke und die Gedanken an der Lattenwand hängenbleiben, desto stärker verbindet sich diese Sichtbarrikade mit dem Raum, aus dem man auf sie schaut. Die verweigerte Aussicht wird zur Sperre, zum leeren Bild. Also ging Ina Holitzka dazu über, die Lattenwand zum Bild umzufunktionieren: Indem sie die Wand verspiegelte, gewann die leere störende Fläche plötzlich Leben und Bedeutung. Dort, wo der Ausblick versperrt war, entstand eine überraschende Projektion, die alle Aufmerksamkeit wieder zurück auf den Raum lenkte, in dem man sich befand. Nun war der gleichzeitige Blick auf das Innere und Äußere der Apsis möglich; die Architektur konnte ihre Kraft entfalten. Die Apsis war unversehens zum Ausstellungsstück geworden.

Die Künstlerin, die dies ermöglicht hatte, blieb in diesem Teil der Arbeit nahezu unsichtbar. In der Verknpfung von plastischem Innenraum und flächigem Außenbild kündigte sich jedoch ihre bereits erwähnte Vorliebe an, in Gegensatzpaaren zu denken und zu arbeiten, immer wieder auf das Umkehrprinzip zu setzen. Doch trotz ihres vehementen Eingriffs ließ sie der Lattenwand die Struktur. Schließlich hatte sie keine geschlossene Spiegelfläche davor gesetzt, sondern Spiegelstreifen auf den Latten befestigt. So blieben die Zwischenräume frei, wurde das Spiegelbild von einem Linienraster gegliedert und wurde der wahre Charakter der Wand nicht kaschiert.

Eine leichte Korrektur hatte der Wirklichkeit ermöglicht, sich selbst abzubilden und die Raumvorstellung zu perfektionieren. Was zwangsläufig getrennt und unvereinbar scheint, wurde auf diese Weise zusammengeführt. Und mit gutem Recht wurde genau der Teil des Raumes ins Zentrum gerückt, der ihm sein Profil gibt – die Apsis. Das Faszinierende an der Apsis ist, dass sie dem Raum nicht nur zu seiner schlichten Schönheit verhilft, sondern dass dieses Halbrund mit seiner inneren Hohlform und seiner Außenwölbung wie das Schlüsselmotiv für Ina Holitzkas gesamtes Schaffen wirkt – das Nebeneinander von Positiv und Negativ ein und derselben Form könnten nicht besser anschaulich gemacht werden.

Doch mit der Verschmelzung von Innen- und Außensicht hatte Ina Holitzka ihr Ziel noch nicht erreicht. Dies war und blieb eine Verknüpfung auf Distanz, in einer lediglich bildlichen Projektion. Die Bildhauerin aber suchte Nähe, wollte genau zu dem Punkt, zu der Linie vordringen, an der sich Innen und Außen berühren, an der das Positiv und das Negativ ineinander übergehen und sich folglich gegenseitig aufheben. Dies gelang ihr in einer Arbeit, die erst später, nach der Wiesbadener Ausstellung, entstand und die den Namen „Grenzgänger“ erhielt: Ina Holitzka hatte die Apsis vermessen und die Basismaße der Pfeiler und Wand auf Filz übertragen und diese Formen ausgeschnitten. Auf einmal stand ihr der Grundriss der Apsis, in dem das Innere und das Äußere des Raumes aufgehen und das gemeinhin nur in den Plänen des Architekten zu studieren ist, als plastische Gestalt zur Verfügung.

Apsis 1 Apsis 2 (Filz) Apsis 3 (Papier)

Ein gewichtiges architektonisches Element war auf eine Grundform reduziert, die alle Wesensmerkmale des Bauwerks vergessen ließ: Aus den massiven tragenden Teile waren schwere, aber ständig zu verändernde Filzformen geworden. Auch das Wechselspiel von Hohlform und Wölbung war verdrängt. Nur in dem Moment, in dem Ina Holitzka den Filz mit Hilfe von Nägeln an der Wand als Halbrund befestigt, entsteht eine Ahnung von der klassischen Form. Das zwar weiche, aber unhandliche Material entzieht sich schnell der strengen Fixierung. Die Bildhauerin nutzte das und ließ sich mit dem Filz auf ein von dem Raum losgelöstes Spiel ein. Der über einen Haken gehängte Filz, bei dem sich die jeweils einander zugeordneten Pfeilergrundrisse überlappen, ist das konsequente Schlußbild dieses Spiels. In diesem Zustand ist die Apsis zusammengeklappt und auf eine geradlinige Achse reduziert. Der Raum und die Rundung sind zerstört und doch sind die Maße und auch die mögliche Form darin enthalten. Gleichzeitig ist dieser zur Ablage geeignete „Grenzgänger“ auch das Eröffnungsbild – einer freien gestalterischen Arbeit, die über diesen Werkkomplex hinausweist.

Es ist, als kehre Ina Holitzka auch innerhalb eines Werkkomplexes immer wieder zum Punkt Null zurück, um sich dem Element, mit dem sie sich auseinandersetzt, auf völlig andere Weise zu nähern. Wie kann man Archiktektur begreifbar und verfügbar machen und wie kann man sie nutzen, um aus ihr Bilder der Wirklichkeit zu abzunehmen? Die Bildhauerin bleibt nicht auf Distanz, sie rückt ihren Objekten auf den Leib. Hier wird Maß genommen und der Grundriss der Apsis zugeschnitten, da werden im Innern des Raumes mit Seidenpapier die Pfeiler abgeformt und dort wird die Apsis von außen fotografiert. Auf den ersten Blick erscheint diese Vorgehensweise wie eine Bestandsaufnahme, wie eine vorauseilende Archäologie – vermessen, sichern, ein Bild gewinnen.

Doch so groß und tief Ina Holitzkas Interesse an dem Raum, seinen Maßen und seinen Spannungen ist, so unzweideutig ist, daß dieses Interesse stets nur Impuls ist. Ina Holitzkas Blick geht daüber hinaus. Sie hat die uns umgebende Architektur als einen Fundus für Formen entdeckt, die die Wirklichkeit spiegeln und ganz unabhängig davon eine ästhetische Kraft haben. Und sie hat die ihr zur Verfügung stehenden Techniken dazu genutzt, diese vorgefundenen und abgenommenen Formen systematisch der Metamorphose auszusetzen. Nichts bleibt so, wie es ist. Aber noch in der Verwandlung ist es erkennbar.

Während der der Filzgrundriss und die Papierabformungen der Apsis die raumprägende Architektur auf die Fläche zurückführen und nun Schnittmustern gleichen, bringt Ina Holitzka mit Hilfe der Fotografie die plastische Vorstellung in ihre Arbeit ein. Das von außen aufgenommene Foto der Apsis wird zum Leitbild der anderen Werkteile. Doch auch hier ist das Lichtbild nicht nur schlichtes Dokument: Da das Fotonegativ nicht ins Positiv verwandelt worden ist, sondern selbst zum Positiv erklärt worden ist, kehrt es seinerseits die Verhältnisse der Wirklichkeit um, lässt die dunklen Fenster als helle Lichtquellen erscheinen und die weißen Mauern als schwarze Massive. Indem Ina Holitzka darüber hinaus das Bild als Colorfoto gestaltete, erhält es auch noch eine konstruktiv-malerische Komponente.

Es wird immer klarer: Ina Holitzka pflegt einen radikalen Realismus. Sie erfindet nichts, sondern lässt die Dinge selbst sprechen – ganz unmittelbar und maßstabsgetreu. Zugleich macht sie aber bewußt, dass jedes Abbild und jeder Abdruck Umwandlungen voraussetzen. Diesen Zwang zur Transformation radikalisiert sie, indem sie, geleitet von ihren bildhauerischen und fotografischen Erfahrungen, die jeweils totale Umkehrung sucht. Das bedeutet, dass sie eine Gegenwelt aufbaut, der wirklichen Architektur eine fiktive entgegensetzt.

Die Leere gewinnt Gestalt

Die Logik der Umkehrung erreicht da ihre extremste Ausformung, wo die Bildhauerin auch der Leere Gestalt gibt. Das, was nur als der Zwischenraum definiert wird, kann ebenso Form gewinnen wie die Dinge, die uns umgeben. Immerhin ist uns mit der Druckgrafik eine Technik vertraut, in der die leere, ungestaltete Fläche, der unbearbeitete Zwischenraum also, prägende Kraft hat. Und wo – wie im Holzschnitt – die Zeichnung als helle Linienstruktur herausgeschnitten wird, da ist der Weg von der schwarzdruckenden Leere zum Negativfoto oder zum Fotogramm nicht weit. Aber auch Bildhauer bemühten sich in diesem Jahrhundert immer wieder, den Um- und Zwischenraum neu zu definieren bzw. in ihre plastischen Arbeiten einzubeziehen.

Ina Holitzka folgte bei der Auseinandersetzung mit dem Innenhof des Wiesbadener Museums ihrer Logik bis zum äußersten Punkt und gab der Leere Profil. Da, wo nichts, besser gesagt: nur Luft ist, legte sie plastische Strukturen frei, indem sie die Zwischenräume der Lattenwand vermaß und danach schmale schwarze Latten anfertigte. Das Nichts erlangt eine massive Form, wird greifbar; daraus lässt sich eine neue Welt bauen. Mit Schaumstoff und Stahlband gebündelt, stehen die Zwischenräume griffbereit, Speeren gleich.

Es ist, als würde in diesem Teil der Arbeit ein poetischer Traum verwirklicht. Mit einem verschmitzten Lächeln verhilft Ina Holitzka jenem Traumtänzer zum Leben, von dem Christian Morgenstern in seinem Gedicht „Der Lattenzaun“ erzählt: Bei Morgenstern nämlich erbaut ein Architekt aus den Zwischenräumen eines Lattenzaunes ein Haus. Und unversehens sieht man, dass auch ein Luftschloss feste Gestalt bekommen kann.

Aber kein Element bleibt für sich isoliert. Zum Bild gibt es stets das Gegenbild. Wo der Zwischenraum fest und greifbar wird, da verlieren die Latten in der Papierabformung ihre Massivität. Dem gewichtigen und dabei schwarzen Bündel der Zwischenräume werden helle, zarte Rollen entgegengesetzt, die in sich die Strukturen der Lattenwand tragen. Das Gleichgewicht ist durch die zweifache Umkehrung wiederhergestellt. Das Bild der Lattenwand ist doppelt gesichert und gleichwohl verformt – weil die stabile plane Fläche nun auf aufgewickelte Rollen übertragen ist.

Die Dinge vermessen und abformen, die Zwischenräume ausloten und sich verfestigen lassen, das reale Bild sichern und umkehren: Es sind fast rituelle Schritte, die Ina Holitzka unternimmt – Herantreten und Abstand nehmen, auflösen und materialisieren, abformen und abbilden. Die bildliche, die fotografische Ebene gehört für die Bildhauerin immer dazu. Wie bei der Apsis so lässt sie auch bei der Lattenwand Fotos den räumlichen Zusammenhang herstellen. Diese Umkehrbilder verhelfen der Lattenwand wieder zu ihrer Festigkeit und Materialität, weil uns, aufgrund unseres Abstraktionsvermögens, das dokumentierende Foto mehr von der Dinglichkeit vermittelt als die in Papier übertragenen Formen der Lattenwand. Ina Holitzka nutzt die Schwächen unseres Vorstellungsvermögens.

Aufgerollte und aufgefaltete Papierabformungen, Umkehrbilder der Raumansichten, materialisierte Zwischenräume, in Filz verfügbar gemachte Grundrisse und in (Spiegel-)Bilder verwandelte Sichtblenden – ein Formenfundus, der die Sinne aktiviert, ein Archiv architektonischer Bauteile, die verschlüsselt sind, ein Vorrat an Bildern, Reliefs und Skulpturen. Die Wirklichkeit hat ihre Spuren hinterlassen, sie ist ausgemessen und abgelichtet. Ihr wurde die Maske abgenommen, so dass die Rück- und Innenseiten sichtbar werden. Nirgends wurde die Ordnung gestört, überall wurde die Maástäblichkeit der direkten Abbildung bewahrt und doch ist eine neue Realität entstanden. In ihr sind oben und unten, innen und außen, schwarz und weiß, konvex und konkav, weich und hart vertauscht. In der Hand der Künstlerin, die einen konkreten Raum analysiert, verwandeln sich die Dinge.

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