Die Kraft der Bewegung

Ausstellung von Urs Lüthi anlässlich der Verleihung des Arnold-Bode-Preises

Der Arnold-Bode-Preis ist, auch wenn immer Gegenteiliges beteuert wird, ein heimlicher documenta-Preis. Die Preisvergabe durch die Jury erfolgt regelmäßig auf documenta-Niveau, und die meisten Preisträger (beispielsweise Richard Hamilton, Rebecca Horn, Edward Kienholz, Gerhard Merz, Mario Merz, Gerhard Richter, Thomas Schütte, Penny Yassour) waren mindestens einmal zur Teilnahme an einer documenta eingeladen worden. Vor diesem Hintergrund ist die Ehrung von Urs Lüthi (geb. 1947 in Luzern) zu sehen. Sie erfolgt aber sehr spät. Der Schweizer Künstler hatte 1977 an der documenta 6 teilgenommen.

Doppelfigur 1Urs Lüthi neben einer seiner Modellskulpturen Doppelfigur 2 Doppelbelichtung

Trotzdem: Der Preis kommt nicht zu spät, denn Urs Lüthi, der seit 15 Jahren einer der wichtigsten und unter den Studenten gefragtesten Künstlerprofessoren an der Kunsthochschule Kassel ist, setzt als Künstler immer noch Maßstäbe. Ein Beweis dafür sind die beiden großformatigen Bilder, die in der Ausstellung hängen, die der Kasseler Kunstverein im Museum Fridericianum aus Anlass der Verleihung des Arnold-Bode-Preises Lüthi eingerichtet hat. Die beiden Bilder sind dunkel und drängen zum Schwarz. Erst allmählich erkennt man in ihnen torsohafte fotografische Motive – einen Kirchturm etwa oder Schilder.

In diesen Bildern gibt sich der Ironiker Lüthi zu erkennen: Die Bilder sind so intensiv und dicht mit optischen Informationen zugeknallt, dass die Informationen sich gegenseitig aufheben und zu einem undefinierbaren Bilderbrei werden. Insofern symbolisieren diese Bilder die ins Absurde gesteigerte Bilder- und Informatinsflut unserer Zeit. Lüthi hat von Reisen Fotos mitgebracht und die am heimischen Computer übereinander kopiert. Bis zu tausend Bilder liegen da übereinander. Das Ergebnis ist, dass sich die Farben im Grau-Braun-Schwarz verlieren und sich die Motive bis zur Unkenntlichkeit überlagern. Nicht genug: Da die Bilder verglast sind, saugen sie auch unersättlich die Lichter und Gegenstände im Raum als Spiegelbilder auf und produzieren zusätzliche Schichten.

Modell 2 Modell 3 Detail Doppelbelichtung 2

Die zweite wichtige Werkgruppe, die in Kassel zu sehen ist, sind kleine Skulpturen, die Lüthi als Modelle begreift und die ironische Gegenbilder zu den Denkmälern sein sollen. Wie immer hat sich Lüthi selbst als Modell genommen, weil er nur an und mit sich so radikal die Darstellung von Haltungen, Mimik und Stimmungen vorführen kann. „Spazio Umano“ (Menschlicher Raum) nennt Lüthi seine Arbeit. Und die Kleinskulpturen aus Bronze erobern den Raum – sie greifen in ihn hinein und beanspruchen Platz, wel sie die Freiheit der Bewegung erlangt haben. Eine Bronze ist eine Doppelfigur. Im Kopf sitzt vorne und hinten ein Gesicht, das eine eher untertänig, das andere eher selbstbewusst. In beide Richtungen ist eine Hand ausgestreckt: so verschieden kann man andere begrüßen – Untertan und Herr.

Die anderen Kleinskulpturen repräsentieren die Kraft der Bewegung. Die Körper haben drei Beine und vier Arme, die weit ausgreifen. Es sieht so aus, als sei in den Figuren festgehalten, wie aus dem Stand eine Bewegung, ein Fortschreiten entsteht. Die Starre, die zum Wesen der Bronzeskulptur gehört, wird überwunden. Urs Lüthi gelingt mit siesen Figuren das, was vor einem knappen Jahrhundert die Futuristen wollten, als sie, erfasst vom neuen Rausch der Geschwindigkeit, in Bildern und Skulpturen Bewegung und Dynamik darstellen wollten. So sieht Lüthi diese Arbeiten als eine Hommage an die Futuristen und auch an Pasolini.

Nur Schemen sichtbar Eine Skulptur und ein Bild spiegeln sich

Das Phänomen der Bewegung hatte Urs Lüthi schon früher beschäftigt. Als ihm im September 1990 der Kasseler Kunstverein erstmals eine Ausstellung (noch im Kulturhaus am Ständeplatz) eingerichtet hatte, da bildeten fünf auf schlanke Sockel gestellte Porträtköpfe das Zentrum der Ausstellung. Auch in diesen fünf Köpfen hatte Lüthi sich selbst gespiegelt, um an Hand dieser Gleichheit die Vielfalt des Ausdrucks zum Sprechen zu bringen. Der eine Kopf blickte schmunzelnd nach unten, ein zweiter ernsthaft geradeaus und ein dritter überlegen nach oben.

Blickte man frontal auf die Reihe und ließ den Blick hin- und herschweifen, dann rückten die Köpfe scheinbar zusammen und verschmolzen zu einem sch bewegenden Porträt. Die Starrheit der Bronze war überwunden und die Kraft der Bewegung und Lebendigkeit in die Skulpturen eingepflanzt.

Urs Lüthi kann, so zeigt sich auch in dieser kleinen Ausstellung, seinem Thema, Stimmungen, Hoffnungen und Ängste der Menschen über ein ironisches Rollenspiel in Bilder und Skulpturen umzusetzen, immer neue Aspekte abgewinnen. Auch die beiden weiteren Fotoarbeiten spielen mit dem Mittel der Verdoppelung (Überblendung), um auf diesem Weg zum bewegten Bild zu gelangen und gleichzeitig die Frage nach der Identität im Ungewissen verhallen zu lassen.

Urs Lüthi: Spazio Umano, Ausstellung des Kasseler Kunstvereins in der Kunsthalle Fridericianum, bis 27. 12. 2009
10. 12. 2009

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