Carolyn Christov-Bakargiev ist wie viele Künstler unserer Zeit eine Nomadin: In den USA aufgewachsen, in Italien studiert und als Kritikerin gestartet, zurück in die USA als Kuratorin, dann wieder Italien und Sydney und nun zur documenta-Leitung in Kassel. Ein Mensch wie sie braucht Kunst, auf die sich bezieht und mit der sie umgeht, um sich. Und so machte sie sich und der Kasseler Bürgerschaft ein Geschenk auf Zeit, indem sie zwei Jahre vor dem Start der dOCUMENTA (13) eine Voreröffnung arrangierte und in der Karlsaue in Kassel eine erste Skulptur aufstellen ließ.
Ein PR-Gag, wie es von mancherorts zurückschallt? Vielleicht auch. Doch eher eine neue Dramaturgie der Einstimmung auf die kommende documenta. Denn Carolyn Christov-Bakargiev bezieht auf ungewohnte Art die Öffentlichkeit in ihre Ausstellungsvorbereitung ein. Heute wurde die Skulptur „Idee di Pietra“ (Ansichten eines Steins“) von Giuseppe Penone aufgestellt, und am Donnerstag arrangiert auf Einladung der Künstler-AG And And And die Künstlergruppe „16 Beaver“ in Detroit beim US Social Forum eine Diskussion. So früh hat keine bisherige documenta Künstlerbeiträge der Öffentlichkeit präsentiert.
Mit der Entscheidung für Penones Skulptur legt Carolyn Christov-Bakargiev ein persönliches Bekenntnis ab. Sie lässt sichtbar werden, welche künstlerisch-biografischen Wurzeln sie hat. Denn Giuseppe Penone stammt eben aus der Stadt, in der sie die vergangene Zeit gewirkt hat – Turin. Zudem ist Penone aus der Bewegung der Arte povera (Arme Kunst, Kunst der alltäglichen Materialien) hervorgegangen, über die Carolyn Christov-Bakargiev ein grundlegendes, international anerkanntes Buch geschrieben hat.
Nun also hat sie eine Skulptur von Penone ausgewählt, die sie 2008 zum ersten Mal in Sydney gezeigt hat und die ihr sozusagen nachgefolgt ist. Es handelt sich um den Bronzeabguss eines Walnussbaumes, dessen obere Äste stark gestutzt sind, so dass der kahle Baum wie abgestorben aussieht. Die Abformung der Rinde und die Löcher in der Borke wirken so natürlich, dass man erst in allernächster Nähe erkennt, dass es kein wirklicher Baum ist.
Der rund neun Meter hohe Bronze-Baum ist ein Symbol dafür, dass Carolyn Christov-Bakargiev und die dOCUMENTA (13) hier Wurzeln schlagen wollen. Dafür, dass die Wurzeln auch richtig treiben, steht eine kleine Ilex-Stechpalme, die unmittelbar neben dem Stamm gepfanzt wurde. Der tote, in Bronze gegossene Baum und der kleine immergrüne Strauch: Dieses Gegensatzpaar erinnert an die Aktion „7000 Eichen“ von Beuys, in der jedem jungen Baum eine Basaltsäule beigegeben wurde.
Penone hat schon mehrfach poetische Arbeiten entwickelt, in denen er mit Steinen, Bronze und Pflanzen arbeitete. Der Baum ist seiner Einschätzung nach eine Idealskulptur und ein Gewächs, in dem sich Kunst und Leben vereinen.
Geheimnisvoll und rätselhaft wird die Skulptur durch einen gewaltigen Granit-Findling, den der Bronze-Baum mit seinen Astgabeln hält. Der Stein hätte vom Himmel gefallen sein können. Er ist auch einer Wolke ähnlich, die sich in den Ästen verfangen hat. Oder er wurde von dem langsam gewachsenen Baum in die Höhe getragen, wie heute bei der Einweihung der Skulptur von der documenta-Leiterin und dem Künstler angedeutet wurde.
Auf jeden Fall hat der Granit-Findling die Schwerkraft überwunden: Der tote Baum hat die Last der Erde zu tragen. Der kleine Ilex-Strauch aber verheißt, dass das Leben neu beginnt und weitergeht. Andererseits kann das Schwere ganz leicht erscheinen. Giuseppe Penone zog in seiner Vorstellung der Skulptur einen Vergleich zwischen Malerei und Plastik. Während in der Malerei die Farbe zudecke und verhülle, sei es Ziel der Skulptur, freizulegen und ans Licht zu bringen. In seiner Arbeit sieht Penone eine Verknüpfung von Malerei und Skulptur, da die im Stein verborgenen Minerale den Stoff für die beständigen Farben und das Malen liefern. Die deckende Malerei sieht Penone als ein Element der Schwerkraft, das Pflanzliche hingegen, das nach oben wächst und zur Form, zur Skulptur wird, entziehe sich der Schwerkraft. In der Baumskulptur aus Bronze sieht Penone also die Gegensätze von Zudecken und Freilegen, von Schwerkraft und Schwerelosigkeit vereint.
Die Einweihung der Skulptur war wie eine kleine Eröffnung. Nach den Journalisten und einigen Unermüdlichen aus der Kasseler Kunstzene waren ein paar Kindergruppen hinzugekommen, die spontan den Bronze-Baum in Besitz nahmen. Das Geschenk auf Zeit war sofort angenommen. Dann strömten immer mehr Menschen hinzu, so dass bei der offiziellen Einweihung (um 12 Uhr am längsten Tag des Jahres) so viele Besucher da waren wie bei einer großen Eröffnung.
Es war ein Tag der Vorfreude, der bei vielen Bürgern die Hoffnung weckte, es werde bei der kommenden documenta wieder mehr Kunst im öffentlichen Raum geben.
21. 6. 2010