Kunstraum Arter 8. Mai 19. September 2010
Istanbul im Aufbruch. Nur sechs Jahre nach der Gründung des Istanbul Modern Sanat Müzesi, des ersten privaten Museums für zeitgenössische Kunst in Istanbul, meldet sich jetzt mit dem Kunstraum Arter ein zweiter Standort für aktuelle Kunst zu Wort. Dieser Kunstraum ist ein Ausstellungsgebäude und will nicht als Museum verstanden werden. Er soll aber zur Entwicklung eines Museums beitragen, das möglichst auf dem ehemaligen Marine-Gelände entstehen soll. In Arter wird mit 160 Arbeiten von 87 Künstlern ein kleiner Teil der Sammlung der Vehbi Koc Foundation Contemporary Art Collection gezeigt, die von dem Berliner Galeristen und früheren Direktor der Kunsthalle Fridericianum in Kassel, René Block (68), zusammengetragen wird. Insgesamt umfasst die Collection derzeit 400 Werke von über 100 Künstlern. Im Arter werden, wie Block betont, eher die kleinen und intimeren Arbeiten vorgestellt, da für die großformatigen Bilder und Installationen nicht genügend Platz ist.
Das Istanbul Modern und Arter liegen im Stadtteil Beyoglu nur rund zehn bis 15 Gehminuten auseinander, das 2004 gegründete Museum verfügt über ein ehemaliges Industriegebäude am Galata Pier, während der neu geschaffene Kunstraum in einem sorgfältig restaurierten, relativ schmalen Wohnhaus der Gründerzeit an der beliebten Einkaufsstraße Istiklal Cadessi residiert. Beide Häuser haben sich zum Ziel gesetzt, der aktuellen türkischen Kunst im internationalen Dialog zur Durchsetzung zu verhelfen. Doch insgesamt sind sie völlig unterschiedlich aufgestellt. Während Arter mit dem Platz geizen muss, kann Istanbul Modern mit seinen 8000 Quadratmetern Fläche verschwenderisch umgehen und große Komplexe präsentieren. Das aktuelle Programm in dem Museum versteht sich als ein Beitrag zur Europäischen Kulturhauptstadt, auch bekennt es sich ausdrücklich zum Dialog mit der europäischen Kunst. Tatsächlich gibt es derzeit dort mehrere hervorragende Video-Arbeiten zu sehen, von denen einige René Block schon während seiner Zeit am Fridericianum in Kassel gezeigt hatte (etwa Mines von Ayse Erkmen, Road to Tate Modern von Özmen/Özgen) sowie Beiträge von international etablierten Künstlern (Man Ray, Bruce Nauman, Christoph Büchel und Samuel Beckett). Doch das sind im Vergleich zur Gesamtpräsentation eher Ausnahmen. Denn die Basis der Sammlung des Istanbul Modern bilden Gemälde von Künstlern, die aus der Tradition des 19. Jahrhunderts hervorgegangen sind, die sich um die Herausbildung einer modernen türkischen Malerei bemühten, die aber in der Annäherung an die Moderne oft hilflos wirken. So entsteht ein eindeutiger Bruch zwischen den verschiedenen Sammlungsteilen.
Dieser misslungene Versuch, für die zeitgenössische türkische Kunst eine in der Tradition begründete Plattform zu finden, die auch zum internationalen Dialog beitragen kann, führte unter anderem dazu, dass vor drei Jahren die türkische Koc Foundation gemeinsam mit René Block einen Plan zur Förderung zeitgenössischer Kunst entwickelte. Dabei ist die Schaffung des Kunstraums Arter als Zwischenschritt zu einer Museumsgründung nur eines von mehreren, miteinander verzahnten Projekten.
Arter wurde mit der Ausstellung Starter eröffnet. Passanten, die nicht vorbereitet sind, bleiben ungläubig stehen, wenn sie in das Schaufenster des Hauses 211 blicken, denn den Raum hinter der Scheibe füllt fast völlig ein grüner Panzer vom Typ T 72 aus. Wer neugierig genug ist und sich ein wenig Zeit lässt, sieht, dass der aus einem weichen Material gefertigte Panzer sich in Abständen zur vollen Größe aufbläst und dann wieder in sich zusammensinkt. Und wenn sich der Panzer erneut aufbläst und das Geschützrohr stramm ausrichtet, dann entsteht nicht nur ein Bild der Bedrohung, sondern wird augenzwinkernd das militärische Potenzgehabe zur sexuellen Anspielung. Der von Michael Sailstorfer entworfene Panzer bildet den faszinierenden Blickfang des neu eröffneten Kunstraumes Arter, in dem auf vier Etagen die Ausstellung Starter zu besichtigen ist. Und Sailstorfers Arbeit verheißt dabei programmatisch, dass in der Ausstellung herausfordernde Kunst zu sehen ist, die ebenso ernst und politisch wie heiter und spielerisch ist.
Der von der Vehbi Koc Foundation getragene Kunstraum Arter versteht sich als ein Ort des Experiments, des forschenden Umgangs mit junger Kunst, bevor diese musealisiert worden ist. In der Eröffnungsschau Starter ist Blocks Handschrift ist unschwer zu erkennen: Die Nähe zur Fluxus-Bewegung und zur Erweiterung des Kunstbegriffs, die Liebe zu der Kunst, in der sich spielerisch Sprache, Bilder und Musik verbinden, und seine Neugier auf das Unerprobte. Als er 22-jährig seine Galerie-Arbeit begann, hatte er nicht nur das Glück, Künstler wie Joseph Beuys, Wolf Vostell und Sigmar Polke zu treffen, die später zu Leitfiguren der Kunst werden sollten, sondern er hatte auch das sichere Gespür, durch sie die Grundlagen für eine neue Kunst kennen zu lernen. Jetzt, in der Starter-Ausstellung zeigt sich, dass selbst die jüngeren Generationen mit dem Vokabular arbeiten, das die Künstler der 60er-Jahre neu buchstabiert haben.
Das Ziel von Arter ist es, jüngeren türkischen Künstlern ebenso ein Forum zu bieten wie internationalen Talenten. Den Weg dahin hat Block mit vorbereitet. Ihm fiel eine Schlüsselrolle zu, weil er aufgrund seiner internationalen Erfahrungen die Innen- mit der Außensicht verbinden kann. Entscheidend für sein Engagement für die Künstler aus der Türkei sowie aus dem östlichen Mittelmeerraum war seine Berufung, 1995 die 4. Istanbul-Biennale auszurichten. Damals konnte er auf eine erste Entdeckungsreise in Südosteuropa und Kleinasien gehen. Noch wichtiger aber waren die Impulse, die von der Biennale und ihrem transkulturellen Dialog ausgingen. Die türkische Kunstszene wurde von einer Aufbruchstimmung erfasst, die bis heute anhält.
Durch seine vor vier Jahren mit der Koc Foundation begonnene Zusammenarbeit ist Block zum guten Geist jener jüngeren türkischen Kunst geworden, die auf den internationalen Dialog abzielt. Dabei sind es nicht nur seine Mitarbeit am Aufbau der Sammlung und seine Mitgestaltung von Arter, die ihn zu einem zentralen Förderer der türkischen Kunst machen. Denn seit 2008 betreut er in Berlin die Galerie Tanas (Sanat, das türkische Wort für Kunst, rückwärts gelesen), in der junge türkische Künstler und Kuratoren die Möglichkeit haben, eigene Projekte zu entwickeln. In diesem Sommer (Heidestraße 50, 12. 6. 7. 8. ) ist Ebru Özsecen mit der Ausstellung Kismet zu Gast, eine Künstlerin, die ebenfalls in Starter vertreten ist. Andere Ausstellungen vermittelten Überblicke über die junge türkische Kunst oder waren als Begleitprojekte zur Istanbul Biennale angelegt. Außerdem gibt Block eine Reihe von außerordentlich reich illustrierte Monographien türkischer Künstler heraus, in der bisher neun Bände vorliegen unter anderem von Kutlug Ataman, Cengiz Cekil, Ayse Erkmen, Gülsün Karamustafa und Nasan Tur.
Arter soll ein vormusealer Raum sein. Das genau 100 Jahre alte Gründerzeithaus wurde mit großer Sorgfalt für die neue Bestimmung hergerichtet. Es ist ein relativ schmales Gebäude, dessen Fensterfronten innen weitgehend hinter eingezogenen Wänden verschwinden mussten, um Raum für Installationen und Bilder zu gewinnen. So konzentriert sich die Ausstellung eher auf die kleinformatigen, kammermusikalischen Werke aus der Sammlung. Raumgreifende Arbeiten wie der T 72 bleiben die Ausnahme. Nun ist die pure Größe eines Kunstwerks kein Kriterium für dessen Qualität. Angesichts aber der vielen wichtigen Arbeiten, die wegen ihrer Abmessungen nicht in Arter gezeigt werden können, ist vorstellbar, dass, wenn der Museumsneubau nicht bald kommt, der Druck groß wird, die Dimensionen der Sammlung endlich sichtbar zu machen und nach zusätzlichen oder anderen Ausstellungsräumen Ausschau zu halten.
Starter ist eine liebenswerte Ausstellung, eine Schau, in der das Spielerische den ersten Eindruck bestimmt. Die Kunst stellt sich und ihre Mittel in Frage und gewinnt dadurch die Freiheit, für Stimmungen, Gefühle und Erkenntnisse unterschiedliche Formen zu finden. Unter der heiteren Oberfläche aber offenbart sich eine Welt, die in die Brüche gegangen ist, in der fast nichts mehr stimmt: Der bedrohliche Panzer sinkt schlaff in sich zusammen (Michael Sailstorfer), Adam und Eva haben unter Zurücklassung ihrer Feigenblätter die von Dürer gemalten Bilder verlassen (Endre Tot), dem aufs Podest gestellten Stuhl ist ein Bein abhanden gekommen (Annette Ruenzler), das Piano ist zertrümmert und nur noch auf einem Foto zu bewundern (Carles Santos), die Blumen vergießen ihre bunten Farben (Diána Keller), eine Kerze brennt sowohl nach unten wie nach oben (Sophia Pompéry) und eine wie eine Stickarbeit wirkendes Bild behauptet: Everything you heard about turkish men is true (Servet Kocyigit).
Die Ausstellung spiegelt 50 Jahre lebendig gebliebene Kunstgeschichte. Und es ist spannend zu beobachten, wie nachhaltig der Befreiungsschlag der Künstler in den 60er-Jahren war und wie die nachfolgenden Generationen davon profitieren und damit die historischen Arbeiten überhaupt nicht museal erscheinen lassen. Sophia Pompérys Kerzen-Video gibt einem Motiv eine neue Wendung, das Nam June Paik in die Videokunst eingeführt hat. Andererseits stellt es wie Diána Kellers Blumen-Video die Naturgesetze auf den Kopf. Man kann wunderbare thematische Linien durch die Ausstellung ziehen etwa vom Klavier, das mit einem Netz eingefangen wurde (Julius Koller) über das zerstörte Piano (Carles Santos), das Klavier, dessen Tasten festgenagelt sind (George Maciunas), das Klavier, das man mit Knopfdruck zum Klingen bringen kann (Joe Jones) bis hin zu dem Flügelboden, dessen Beine in die Luft ragen und in dem man sich spiegeln kann (Maaria Wirkkala).
Starter Werke aus der Vehbi Koc Collection, im Kunstraum Arter, Istanbul, Istiklal Caddesi Nr. 211, www.arter.org.tr