Istanbul als Drehscheibe der Moderne

Der Kunstraum „Arter“ wurde mit der von René Block kuratierten Ausstellung „Starter“ eröffnet

Die Istiklal Caddesi, die im Istanbuler Stadtteil Beyoglu hoch zum Taksim Platz führt, ist eine der beliebtesten Flanier- und Einkaufsmeilen der Millionenmetropole am Bosporus. Vor allem am Abend strömen Tausende durch die Straße. Die Geschäfte und Restaurants haben ihr Angebot auf die Touristen ausgerichtet, aber auch die Einheimischen finden das, was sie brauchen. Doch wie in anderen Bezirken befindet sich Istanbul auch hier im Um- und Aufbruch: Die Konsummeile erweitert sich zur Kulturmeile. Istanbul wird zur Drehscheibe der Moderne – und ist auf dem Feld der Kunst mit Hilfe ausschließlich privater Förderer in Europa angekommen.

Passanten, die nicht vorbereitet sind, bleiben ungläubig stehen, wenn sie in das Schaufenster des Hauses 211 blicken, denn den Raum hinter der Scheibe füllt fast völlig ein grüner Panzer vom Typ „T 72“ aus. Wer neugierig genug ist und sich ein wenig Zeit lässt, sieht, dass der aus einem weichen Material gefertigte Panzer sich in Abständen zur vollen Größe aufbläst und dann wieder in sich zusammensinkt. Und wenn sich der Panzer erneut aufbläst und das Geschützrohr stramm ausrichtet, dann entsteht nicht nur ein Bild der Bedrohung, sondern wird augenzwinkernd das militärische Potenzgehabe zur sexuellen Anspielung. Der von Michael Sailstorfer entworfene Panzer bildet den faszinierenden Blickfang des neu eröffneten Kunstraumes „Arter“, in dem auf vier Etagen die Ausstellung „Starter“ zu besichtigen ist. Und Sailstorfers Arbeit verheißt dabei programmatisch, dass in der Ausstellung herausfordernde Kunst zu sehen ist, die ebenso ernst und politisch wie heiter und spielerisch ist.

Der von der Vehbi Koc Foundation getragene Kunstraum „Arter“ versteht sich als eine Art Kunsthalle, als ein Ort des Experiments, des forschenden Umgangs mit junger türkischer, arabischer und internationaler Kunst, bevor diese musealisiert worden ist, aber auch als ein Forum, in dem – wie jetzt – Teile der 400 Werke umfassenden Sammlung der Koc Foundation präsentiert werden. Die Eröffnungsschau, in der 160 Werke von 87 Künstlern gezeigt werden, hat der Berliner Galerist und langjährige Kurator René Block (68) zusammengestellt. Blocks Handschrift ist unschwer zu erkennen: Die Nähe zur Fluxus-Bewegung und zur Erweiterung des Kunstbegriffs, die Liebe zu der Kunst, in der sich spielerisch Sprache, Bilder und Musik verbinden, und seine Neugier auf das Unerprobte. Als er 22-jährig seine Galerie-Arbeit begann, hatte er nicht nur das Glück, Künstlern wie Joseph Beuys, Wolf Vostell und Sigmar Polke zu treffen, die später zu Leitfiguren der Kunst werden sollten, sondern er hatte auch das sichere Gespür, durch sie die Grundlagen für eine neue Kunst kennen zu lernen. Jetzt, in der „Starter“-Ausstellung zeigt sich, dass selbst die jüngeren Generationen mit dem Vokabular arbeiten, das die Künstler der 60er-Jahre neu buchstabiert haben.

Das Ziel von „Arter“ ist es, jüngeren türkischen Künstlern ebenso ein Forum zu bieten wie internationalen Talenten. Den Weg dahin hat Block mit vorbereitet. Ihm fiel eine Schlüsselrolle zu, weil er aufgrund seiner internationalen Erfahrungen die Innen- mit der Außensicht verbinden kann. Entscheidend für sein Engagement für die Künstler aus der Türkei sowie aus dem östlichen Mittelmeerraum war seine Berufung, 1995 die 4. Istanbul-Biennale auszurichten. Damals konnte er auf eine erste Entdeckungsreise in Südosteuropa und Kleinasien gehen. Noch wichtiger aber waren die Impulse, die von der Biennale und ihrem transkulturellen Dialog ausgingen. Die türkische Kunstszene wurde von einer Aufbruchstimmung erfasst, die bis heute anhält. Das beste Beispiel dafür ist, dass schräg gegenüber von „Arter“ in der Istiklal Caddesi das Borusan Music House sozusagen zur Begrüßung von „Starter“ auf sechs Etagen eine Ausstellung mit Werken von 16 Künstlern (wie Doug Aitken, Kutlug Ataman, Jim Dine und Sol Lewitt) aus der Borusan Collection einrichtete.

Durch seine vor vier Jahren mit der Koc Foundation begonnene Zusammenarbeit ist Block zum guten Geist jener jüngeren türkischen Kunst geworden, die auf den internationalen Dialog abzielt. Dabei sind es nicht nur seine Mitarbeit am Aufbau der Sammlung und seine Mitgestaltung von „Arter“, die ihn zu einem kritischen Förderer der türkischen Kunst machen. Denn seit 2008 betreut er in Berlin die Galerie Tanas (Sanat, das türkische Wort für Kunst, rückwärts gelesen), in der junge türkische Künstler und Kuratoren die Möglichkeit haben, eigene Projekte zu entwickeln. Außerdem gibt Block eine Reihe von Monographien türkischer Künstler heraus, in der bisher neun Bände vorliegen.

Langfristiges Ziel der Vehbi Koc Foundation ist die Schaffung eines Museums für türkische und internationale Kunst auf dem ehemaligen Marine-Areal am Goldenen Horn. Dieses Museum, in das Block einen Teil seiner eigenen Sammlung als Dauerleihgabe einbringen will, ist als ein Gegenentwurf zu dem 2004 am Galata Pier entstandenen Museum „Istanbul Modern“ zu verstehen, das ebenfalls auf einer privaten Sammlung basiert. Denn die große Schwäche des „Istanbul Modern“, das sich durchaus auch die aktuelle internationale Videokunst bemüht, besteht darin, dass der Brückenschlag von der traditionellen türkischen Malerei zu der Moderne mit ihrer Installations- und Medienkunst nicht gelingen will.

Auch wenn jetzt in „Arter“ ein gewichtiger Teil der Vehbi Koc Collection präsentiert wird, will dieser neue Kunstraum nicht als eine Vorstufe zu einem Museum verstanden werden. „Arter“ soll ein vormusealer Raum sein. Das genau 100 Jahre alte Gründerzeithaus wurde mit großer Sorgfalt für die neue Bestimmung hergerichtet. Es ist ein relativ schmales Gebäude, dessen Fensterfronten innen weitgehend hinter eingezogenen Wänden verschwinden mussten, um Raum für Installationen und Bilder zu gewinnen. So konzentriert sich die Ausstellung eher auf die kleinformatigen, kammermusikalischen Werke aus der Sammlung. Raumgreifende Arbeiten wie der „T 72“ bleiben die Ausnahme. Nun ist die pure Größe eines Kunstwerks kein Kriterium für dessen Qualität. Angesichts aber der vielen wichtigen Arbeiten, die wegen ihrer Abmessungen nicht in „Arter“ gezeigt werden können, ist vorstellbar, dass, wenn der Museumsneubau nicht bald kommt, der Druck groß wird, die Dimensionen der Sammlung endlich sichtbar zu machen und nach zusätzlichen oder anderen Ausstellungsräumen Ausschau zu halten.

„Starter“ ist eine liebenswerte Ausstellung, eine Schau, in der das Spielerische den ersten Eindruck bestimmt. Die Kunst stellt sich und ihre Mittel in Frage und gewinnt dadurch die Freiheit, für Stimmungen, Gefühle und Erkenntnisse unterschiedliche Formen zu finden. Unter der heiteren Oberfläche aber offenbart sich eine Welt, die in die Brüche gegangen ist, in der fast nichts mehr stimmt: Der bedrohliche Panzer sinkt schlaff in sich zusammen (Michael Sailstorfer), Adam und Eva haben unter Zurücklassung ihrer Feigenblätter die von Dürer gemalten Bilder verlassen (Endre Tot), dem aufs Podest gestellten Stuhl ist ein Bein abhanden gekommen (Annette Ruenzler), das Piano ist zertrümmert und nur noch auf einem Foto zu bewundern (Carles Santos), die Blumen vergießen ihre bunten Farben (Diána Keller), eine Kerze brennt sowohl nach unten wie nach oben (Sophia Pompéry) und eine wie eine Stickarbeit wirkendes Bild behauptet: „Everything you heard about turkish men is true“ (Servet Kocyigit).

Die Ausstellung spiegelt 50 Jahre lebendig gebliebene Kunstgeschichte. Und es ist spannend zu beobachten, wie nachhaltig der Befreiungsschlag der Künstler in den 60er-Jahren war und wie die nachfolgenden Generationen davon profitieren und damit die historischen Arbeiten überhaupt nicht museal erscheinen lassen. Sophia Pompérys Kerzen-Video gibt einem Motiv eine neue Wendung, das Nam June Paik in die Videokunst eingeführt hat. Andererseits stellt es wie Diána Kellers Blumen-Video die Naturgesetze auf den Kopf. Man kann wunderbare thematische Linien durch die Ausstellung ziehen – etwa vom Klavier, das mit einem Netz eingefangen wurde (Julius Koller) über das zerstörte Piano (Carles Santos), das Klavier, dessen Tasten festgenagelt sind (George Maciunas), das Klavier, das man mit Knopfdruck zum Klingen bringen kann (Joe Jones) bis hin zu dem Flügelboden, dessen Beine in die Luft ragen und in dem man sich spiegeln kann (Maaria Wirkkala).

artluk, 3(17) 2010

http://magazyn.o.pl/2010/stambul-zwrotnica-nowoczesnosci/

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