Die Dinge entziehen sich

„Tactics of Invisibility“, Galerie Tanas, 11. 9. 2010 – 15. 1. 2011

Der in Berlin lebende Nasan Tur hat seit 2007 in Ljubljana, Mailand, Belgrad, Stuttgart und Wien Graffiti-Botschaften gesammelt und notiert, um dann die gefundenen Texte innerhalb einer Ausstellung mit roter Farbe auf eine Wand zu sprühen. Tur verdichtet die Texte so stark, dass die Botschaften bis zur Unkenntlichkeit untergehen. Aus den Hilferufen, Anklagen und Nonsense-Sprüchen wird ein sprachloses Bild des abstrakten Expressionismus. Ganz zu Recht ziert Turs Wandbild den Katalog, weil in ihm die Strategien der Unsichtbarkeit („Tactics of Invisibility“) ihre Durchsetzungskraft entfalten.
Nun kann eine Ausstellung schlechterdings vollkommen auf die Unsichtbarkeit setzen. Es geht in diesem Fall auch weder um das Bilderverbot noch um die Bilderlosigkeit. Nein, hier ist sogar sehr viel zu sehen. Mit dem Unsichtbaren ist eher jene Darstellungslücke gemeint, die sich zwangsläufig zwischen Bild, Text und Ton ergibt: Denn das, was ursprünglich für eine künstlerische Arbeit Anlass war, entzieht sich oft dem Bild oder der Installation. Ein gutes Beispiel dafür liefert Hale Tenger mit seiner Videoarbeit „Beirut“. Der Film kann nicht (und soll auch nicht) den Terror und Verwüstungen in der Stadt zeigen. Er konzentriert sich vielmehr auf eine starre Kameraeinstellung, die die triste Fassade eines einst glanzvollen Hotels sehen lässt. Die Sonnenschutzvorhänge werden nach außen geweht und bezeugen damit, dass der Bau verlassen worden ist. Das Leben ist in dem Hotel ausgelöscht. Die Fassade wird somit zum Symbol des Todes und übernimmt ganz selbstverständlich die Zeugenschaft für den neben dem Hotel verübten Mordanschlag auf den libanesischen Ex-Ministerpräsident Rafiq al-Hariri. Da bedarf es in einer weiteren Sequenz gar nicht der Feuerblitze in dem Video.
Die Ausstellung ist eine Gemeinschaftsproduktion der Thyssen-Bornemisza Art Contemporary (Wien), von ARTER (Istanbul) und der Galerie Tanas (Berlin, Heidestraße 50). Die Schau, die von Daniela Zyman und Emre Baykal zusammengestellt wurde und die von Wien über Berlin nach Istanbul wandert, bemüht sich um einen konzentrierten Überblick über die heutige türkische Kunstszene. Dabei vereint sie drei Generationen – von Sarkis und Füsun Omur (Jahrgang 1938) bis hin zu Ahmet Ögüt (Jahrgang 1981). Durch alle Beiträge zieht sich die kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen und individuellen Identität. Man spürt den dringenden Wunsch, zwischen Tradition und Moderne sowie zwischen Asien und Europa den eigenen Platz zu finden und die Widersprüche durch deren Aufzeigen zu überwinden.
So sehr die Künstler sich inhaltlich mit der Tradition auseinandersetzen, so wenig sind sie im Handwerklichen an die alten Schulen der türkischen Kunst gebunden. Sie arbeiten so gekonnt und selbstverständlich mit den international üblichen Techniken und Medien, dass sich die Frage nach dem Formalen kaum stellt. Die Ausstellung ist ein Beleg dafür, welch starker Wandel sich in der türkischen Kunst in den 90er-Jahren vollzogen hat. Eine nicht unmaßgebliche Rolle hat dabei René Block gespielt, der 1995 die Istanbul Biennale leitete und der der gute Geist der Galerie Tanas ist, die von der Vehbi Koc Foundation getragen wird.

Auch in der Arbeit „Ghost“ von Ayse Erkmen ist das Unsichtbare das zentrale Element. Die Künstlerin hat unter die Decke zwölf Lampen sowie neun lampenähnliche Lautsprecher gehängt. Man muss schon unter die Lautsprecher treten, um die produzierten Klänge zu vernehmen. Die streng geordneten Lampen und Lautsprecher bilden den sichtbaren Teil der Installation. Die Musik verweist auf den unsichtbaren Teil, auf den Geist Beethovens. Denn in dem Wiener Palais Erdödu-Fürstenberg, für den Ayse Erkmen ihre Arbeit konzipiert hatte, war Ludwig van Beethoven eine Zeit lang ein- und ausgegangen, da er eine Beziehung zu der Hausherrin hatte. Ihm sowie einem angeblich im Haus herumwandernden Geist widmete die Künstlerin den Kanon „Glück, Glück zum Neuen Jahr“, den sie hier aber nur mit einer Stimme vortragen lässt. In den Berliner Galerieräumen funktioniert diese Arbeit allerdings nur begrenzt; da das Palais und Beethoven fern sind, reduziert sich die Arbeit nahezu auf ihr Konzept.
Wie Erkmen arbeitet Nevin Aladag mit Lampen, die aber hier als Bodenleuchten eingesetzt werden. Es handelt sich bei der Arbeit „Colors“ um Designerlampen des Dänen Poul Henningsen, die Nevin Aladag auf überraschende Weise farbig umgestaltet hat. Nach konstruktiver Tradition überziehen Farbstreifen die Lampen. Beim näheren Hinschauen entdeckt man, dass die Farbigkeit bunten Strumpfhosen zu verdanken ist, die die Künstlerin den Lampen übergestreift hat. Durch diese weiblichen Kleidungsstücke gewinnen die so nüchternen und klaren Lampen einen neuen, schwer greifbaren, aber nicht zu verdrängenden Aspekt, der Fragen nach der Weiblichkeit aufwirft. Die Lampen werden im Wortsinne zu Beleuchtungskörpern.
Kutlug Ataman ist spätestens seit der Documenta11 international als ein Meister der Video-Installation bekannt. Ataman setzt auf die Kraft der Erzählung: immer wieder sieht manin seinen Videos Menschen, die von Erfahrungen und Leidenschaften berichten. In dieser Ausstellung nun wandern die Besucher zwischen sechs frei im Raum hängenden Projektionstafeln. Sechs Menschen kommen dort zu Wort, die in einer schiitischen Religionsgemeinschaft leben, die an die Wiedergeburt glaubt. Dieser Glaube ist so unerschütterlich, dass die Menschen aus tiefster Überzeugung über ihre zwei Existenzen reden können – über die jetzige und über das Leben zuvor: So werden aus sechs zwölf Leben, wie der Titel „Twelve“ verheißt.
Die Ausstellung dokumentiert, wie mühelos die türkischen Künstler Arbeitsformen entwickelt haben, um am internationalen Dialog teilzunehmen. Die meisten von ihnen widmen sich Themen und Problemen, die unmittelbar aus ihrer Lebensrealität stammen, so dass sie dadurch ihrer nationalen Identität und Widersprüchlichkeit treu bleiben. Sie scheuen dabei vor Provokationen nicht zurück – wie etwa Nilbar Güres, die in ihrer großformatigen Fotoarbeit „Unknown Sports“ zeigt, wie eine Frau gegen alle gängigen Kleidungsregeln verstößt und wie sie das Spannungsverhältnis zwischen häuslicher Abgeschiedenheit und öffentlichem Sport thematisiert: Halb entblößt macht sie, auf einem Kopftopf stehend, Turnübungen vor ein paar Zuschauerinnen.

Katalog: „Tactics of Invisibility“, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 220 S., 19 Euro. – www. Tanasberlin.de

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