Eine derart starke, politisch zugespitzte Ausstellung war im Kasseler Fridericianum noch nicht zu sehen. Die Kunsthalle ist für drei Monate zum beklemmenden Mahnmal geworden. Dabei wirken die Bilder, Objekte und Video-Arbeiten, die die mexikanische Künstlerin Teresa Margolles installiert hat, wie alltägliche Materialien, die sich erst einmal jeder Mitteilung entziehen. Beispielsweweise kann man die 40 erdfarbenen Leinwände, die vor den Fenstern im ersten Obergeschoss hängen und sie damit verschließen, für monochrome Malerei halten. Oder man kann die beiden großformatigen Video-Projektionen, in denen Schüler zu sehen sind, die auf zwei Pausenhöfe strömen und diese verlassen, als Studien von Bewegungsabläufen verstehen.
Nur dann, wenn man die begleitenden Texte studiert und wenn man danach fragt, vor welchem Hintergrund diese Arbeiten entstanden sind, erfasst man deren politische Sprengkraft und das darin verborgene menschliche Leid. Es geht um den tausendfachen Mord im Norden Mexikos, im Grenzgebiet zu den USA, wo Drogenbanden ganze Stadtviertel beherrschen. Teresa Margolles zeigt in ihrer Ausstellung nicht die beiden Polizisten und nicht die vier jungen Männer, die jeweils vor einer Mauer erschossen wurden, sondern hat in Mexiko die authentischen Mauern abgebaut und in Ausstellungsobjekte verwandelt, die nun mit ihren Einschusslöchern und ihrem Stacheldraht als stumme und doch beredte Zeugen an das grausame Morden erinnern.
Die mexikanische Künstlerin setzt auf das Prinzip der Repräsentation, auf das indirekte Sprechen. Hat man sie einmal verstanden, dann erfasst einen die ganze schreckliche Dimension, von der sie auf unterschiedlichen Ebenen erzählt.
Die Leinwände, die die Fensterfront im ersten Obergeschoss verschließen, erinnern an Malerei. Um diesen ästhetischen Aspekt geht es allerdings nur am Rande: Wo eine Kunstausstellung gezeigt wird, kann mit künstlerischen Mitteln gespielt werden. Doch der wahre Charakter der Arbeit liegt in der blutigen Zeugenschaft: Die Leinwände sind mit der Erde und dem Blut von den Orten getränkt, an denen die Morde geschehen sind.
Todesspuren, wohin man blickt. Im hohen Saal des ersten Stockwerkes tropft von oben Leichenwaschwasser auf eine heiße Platte und verdunstet. So wird dieses Wasser Teil des Raumes, in dem die Besucher stehen. In einem anderen Raum zieht sich eine horizontale Linie durch eine Wand, in die eine weiße Masse geschmiert ist. Es handelt sich um Körperfett von Ermordeten. Nachdrücklicher kann die Erinnerung an die Todesopfer nicht erinnert werden.
Um die Toten geht es auch in den Videoszenen, in denen Schüler auf Pausenhöfen zu sehen sind. Die Schüler gedenken in einer Schweigeminute der mehreren hundert Mitschüler, die ermordet wurden.
In der Eingangshalle des Fridericianum liegt auf dem Boden ein Kubus aus Eisen: Auch dieser Würfel, der eine Tonne wiegt, steht für den Verfall eines Landes. Denn in dem Kubus ist Bedtonstahl zusammengeschmolzen und massiv verdichtet worden, der aus Häusern stammt, die reihenweise abgebrochen wurden. Aus der Weitläufigkeit einer Wohnstraße ist edin unscheinbarer Klotz geworden, der in einer Ausstellung noch für eine künstlerische Leistung gehalten werden könnte. Teresa Margolles nutzt also die Sprache der Kunst, um sie in Frage zu stellen.
Kommen wir noch einmal zu den Leinwänden zurück, die die Fenster von außen verbergen: Nimmt man sie als große ungegenständliche Bilder, dann kann man, wie es Rein Wolfs in der Eröffnungspressekonferenz augenzwinkernd tat, von der triumphierenden Malerei sprechen. Wann schon ist in diesem Ausstellungsgebäude das Innere nach außen gekehrt und die Malerei an der Fassade installiert worden? So kann Wolfs, der angekündigt hatte, er werde keine Malerei zeigen, großzügig darauf verweisen, dass sich in diesem Jahr gleich drei Künstler in ihren Ausstellungen der Malerei gewidmet hätten – Thomas Zipp, Mark Divo und nun Teresa Margolles.
Doch man kann es auch umgekehrt sehen: Die Bilder von Teresa Margolles erwecken den Eindruck von Malerei, sind es aber nicht. Und indem sie nicht in die Ausstellungsräume integriert, sondern vor die Fenster gehängt wurden, werden sie für alle Welt sichtbar ausgesperrt. Denn die Ausstellung selbst kommt ohne Malerei aus. Der einzige Nutzen, den die Ausstellung aus den Leinbwänden vor den Fenstern zieht, ist der Verdunklungseffekt.
4. 12. 2010