In einer zwanghaften Welt

Ein weiterer Schritt auf dem Weg zur dOCUMENTA (13), das nächste Fenster mit einem Blick auf die kommende Ausstellung und ihre Künstler ist geöffnet. Der französische Künstler Pierre Huyghe (Jahrgang 1962), der zugleich künstlerischer Berater von Carolyn Christov-Bakargiev ist, stellte am gestrigen Valentinstag im Kasseler Gloria-Kino seinen Zwei-Stunden-Film „The Host and the Cloud“ vor, nachdem er vorgestern bei der Berlinale seine Premiere gehabt hatte.
Huyghe hatte 2001 den französischen Pavillon in Venedig bespielt und war 2002 an der Documenta11 in Kassel beteiligt. Sein neuer Film ist das Dokument einer Performance-Reihe, die 2009 und 2010 an drei Tagen (Halloween, Valentinstag, 1. Mai) in dem geschlossenen Musée des Arts et Traditions Populaires in Paris stattfand. Wegen der inhaltlichen Verknüpfung hatte die documenta-Leiterin Wert darauf gelegt, den Film am Valentinstag zu präsentieren.

Der Film „The Host and the Cloud” ist geheimnisvoll und rätselhaft. Das fängt mit dem Titel an. Wer ist der Gast? In diesem vorwiegend bedrückenden Szenario kann man kaum jemanden erkennen, den man als Gast bezeichnen würde. Eher denkt man an Opfer, an die Eingeschlossenen, die Akteure, Zuschauer und Beobachtete zugleich sind. Und die Wolke? Die Szenerie wird verschiedentlich in Wolken getaucht. Am nachdrücklichsten prägen sich die roten Nebelwolken (und roten Schatten) ein. Carolyn Christov-Bakargiev, die nach der Vorführung mit Huyghe über dessen Film sprach, begann – zur Vergegenwärtigung des Erzählstrangs – mit der schlichten Aufzählung der in den Szenen anklingenden Motive. Sie machte damit klar, dass Dutzende von Ansätzen zu Geschichten zu sehen waren, die immer wieder abbrachen, Torsi blieben und sich im Laufe des Filmes doch verschränkten und ein düsteres Gewebe ergaben. Die Szenen steigen in rascher Folge wie Traumbilder auf, um dann wie Seifenblasen zu zerplatzen.

Die bedrohliche Tonart wird einmal durch das abweisend kalte, modernistische Gebäude angeschlagen, das sich als ehemaliges Museum ebenso als Laboratorium wie als Gerichtssaal, Theaterbühne oder Krimi-Unterwelt anbietet. An die Thematik des Ausstellens oder an eine aus der Wirklichkeit herausgelöste und konservierte Realität denkt man, wenn man das Museum selbst nicht kennt, erst spät, nämlich erst dann, wenn die Vitrinen und Ausstellungsobjekte auftauchen. Die andere Quelle der Bedrohung ist die Simulation einer Gerichtsszene, in der es um die revolutionären Thesen der Untergrundorganisation „action direct“. Im Gericht wie in zahlreichen anderen Szenen tragen die handelnden Personen weiß leuchtende Gesichtsmasken, die ihnen das letzte Stück ihrer Identität rauben. „I stole a character“ steht auf einem Plakat, das später ein Mann vor sich trägt. Das Plakat könnte das Grundthema sein, der Verlust der Individualtät, der dazu führt, dass die Personen wie zwanghaft handeln.
Pierre Huyghe schrieb kein Drehbuch. Die Performance – und dementsprechend der Film – verlief auf der Grundlage einiger Vorgaben für die Akteure relativ frei und ließ Raum zur Improvisation. Das sich so entwickelnde Spiel hatte oft etwas Zwanghaftes. Nur gelegentlich setzte sich das Spontane durch, etwa wenn vier Hunde durch die Szene tobten oder schwarze und weiße Kaninchen sich dem Zugriff entzogen. Die Kaninchen ließen den unvorbereiteten Betrachter an Zauberei denken, für Huyghe hingegen sind sie Verkörperungen seiner selbst, seiner Seele. Er sieht die immer wieder neu ansetzende Geschichte als die Erzählung von einem nicht anwesenden Subjekt. Doch noch viel stärker ist das Gefühl, dass sich das gesamte Spiel in einem geschlossenen System entwickelt, in dem man am Ende nicht mehr weiß, wer Akteur und wer Betrachter ist. Es geht um die Welt der Bilder, um die Bilder der Wirklichkeit, um die Bilder des Spiels, um die erinnerten und eingebildeten Bilder und schließlich um die zwanghaften Bilder, die unter Hypnose entstehen.
So sehr Huyghe das traditionelle System der Bilder aufbricht, so überraschend konservativ und vorurteilsbeladen ist er, wenn er das Bild der Frau formt. Sie ist zwar die Zuschauerin und indirekt die Verkörperung des Subjekts, wird aber immer wieder zum Objekt, zum Gegenstand der Lust und zur Opferfigur degradiert.
Ein viel schichtiges Werk, in dem nur manchmal die Leichtigkeit und Heiterkeit Platz gewinnen. Selbst die angedeutete Sexorgie wirkt eher bedrückend als lustvoll.

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