Auftritt Laurie Anderson

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Zum vierten Mal hatte Laurie Anderson ihren großen Auftritt in Kassel: 1977 und 1987 war sie zur documenta zu Gast, dann 1995 zur ersten Millennium-Tagung und nun anlässlich der Jubiläumsfeier zum 50jährigen Bestehen des documenta Archivs. Im Schauspiel des Staatstheaters präsentierte sie ihre Video-Performance als eine Art Lebensbilanz – mit einer unglaublichen Bühnenpräsenz und hervorragendem schauspielerischen Einsatz.

Die Leiterin des documenta Archivs, Karin Stengel, hatte die amerikanische Performerin auch deshalb eingeladen, weil gerade zum Archivjubiläum die Digitalisierung der Videobestände abgeschlossen werden konnte und unter diesen Videos auch Beiträge von Laurie Anderson sind. Die Besucher der Festveranstaltung erlebten eine opulente Video-Performance-Aufführung, die opernhafte Dimensionen annahm. Fantastisch waren ihre Mimik und Gestik sowie ihr Spiel auf der selbst gebauten Violinie.

Am Vormittag nach der Aufführung war Laurie Anderson Gast zum Gespräch bei einer Tagung in der Evangelischen Akademie Hofgeismar. Wulf Herzogenrath, der Direktor der Bremer Kunsthalle und verantwortlicher Kurator für die documenta-Videoabteilungen 1977 und 1987, befragte die Performerin. Auch war Elisabeth Jappe dabei, die 1987 das documenta-Performance-Programm betreut hatte.

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Im Gespräch war Laurie Anderson genauso lebhaft und ausdrucksreich wie in der Performance. Es wurde klar, dass sich das ganze Schaffen bei ihr um den Körper dreht – um das, was er ausdrückt und was er an Energien leitet, wie er Gedanken und Erinnerungen verarbeitet. Laurie Anderson bringt ihren Körper zum Klingen und Sprechen, und möchte doch, wie sie im Gespräch gesteht, aus ihm ausbrechen und eine andere Identität zuteilen. Die Verfremdung ihrer Stimme (männlich-tiefe Lagen) verdeutlicht diesen Drang.

Laurie Anderson ist eine Geschichtenerzählerin, Ihre Performance „Delusion“ barg eine Vielzahl von Geschichten. Auch ihr eigenes Schicksal, dass sie als Mädchen nach einem Unfall in einem Stahlkorsett leben musste (und nicht wusste, ob sie jemals wieder laufen würde können), schildert sie als eine Geschichte, deren Clou es war, dass sie in ihrer Krankenhauszeit viele Bilder für ihre spätere Arbeit fand.

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Laurie Anderson ist eine Multimedia-Pionierin, die immer Avantgarde war. Jetzt, da die technischen Entwicklungen auch für Laien und Amateure möglich machen, was sie einst mühsam erfinden musste, offenbart sie, wie gleichgültig ihr die neuen Errungenschaften sind. Heute lässt sich im Netz fast alles kopieren. Na bitte, sagt sie, sollen die Leuten doch meine medialen Arbeiten kopieren und auf ihre Weise verarbeiten. Und ob alles konserviert und gespeichert werden kann? Na, selbst wenn es möglich ist – auch in gespeicherter Form kann es vergessen werden.

In ihrer Performance hatte sie vier Flächen eingerichtet, auf die sie ihre Videofilme projizieren ließ. Mal waren es surreale Zeichen, die auf die Bühne niederprasselten, mal vergrößerte Skizzen und Zeichnungen und zwischendrin auch rätselhafte Filmszenen – so wie die, in der ein Mann mit Kamera auf der anderen Seite der Bühne zu sehen war und den Fortgang der Geschichte beobachtete.

Laurie Anderson ist, wenn sie über sich und ihre Arbeit spricht, immer bereit zum Lachen. Bewundernswert ist, wie entspannt und locker sie spricht, obwohl sie gerade die eine Performance hinter sich hat und die nächste am Abend bevorstand.

Die Akademietagung hatte mit einem Vortrag von Carolyn Christov-Bakargiev begonnen, in dem die documenta-Leiterin ihren Zuhörern vortrug, in welchen Bezügen sie denkt. Die Frage nach der Form der Kunst spielte dabei eine nachrangige Rolle. Wieder gab sie auch ein paar (leicht versteckte) Einblicke in ihr Konzept und in die Künstlerliste. Die dOCUMENTA (13) wird, so ist zu schließen, zu einem geistigen Abenteuer.

Insgeheim war zu hoffen, zum 50. Geburtstag wäre dem documenta Archiv ein Geschenk gemacht worden – nämlich die Zusage für den Ankauf des Szeemann-Archivs oder zumindest das Versprechen des Landes Hessen, irgendwann mit in die Verantwortung für das Archiv zu treten. Doch Kunstministerin Eva Kühne-Hörmann erwähnte diesen Komplex in ihrer Rede beim Festakt vor der Performance überhaupt nicht. Und offenbar wollte Oberbürgermeister Bertram Hilgen keinen Streit und umging ebenfalls das Thema. Lediglich Klaus Staeck, mehrfacher documenta-Teilnehmer und Präsident der Akademie der Künste, und Alexander Farenholtz, Geschäftsführer der Bundeskulturstiftung, unterstützten den Wunsch der Archiv-Leiterin Karin Stengel mit Nachdruck, das Szeemann-Archiv für Kassel zu retten und damit dem documenta Archiv eine neue Perspektive zu eröffnen.


Neuerscheinung: „… nach der documenta: 50 Jahre documenta Archiv für die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts“ Mit Beiträgen von Walter Grasskamp, Karin Stengel, Friedhelm Scharf, Martin Groh, Heide Radeck und Dirk Schwarze

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