Die dOCUMENTA (13) und das Religiöse

Die Frage nach dem Glauben und der Religionszugehörigkeit der documenta-Leiter hatte sich in der Vergangenheit nie gestellt. Bei der dOCUMENTA (13) sah das ganz anders aus, denn die Ausstellungsleiterin, Carolyn Christov-Bakargiev (CCB), entpuppte sich als eine Frau, die nichts mit dem Religiösen im Sinn hatte und eine regelrechte Kirchen-Phobie an den Tag legte..
Klar wurde mir das zum ersten Mal im Jahr 2011, als ich anlässlich einer Laurie Anderson-Tagung in der Evangelischen Akademie Hofgeismar einen Vortrag von CCB und die anschließende Diskussion moderieren sollte. Vor Beginn der Veranstaltung musste ich rund zehn Minuten auf sie einreden, weil sie immer wieder empört sagte Das ist ja Kirche. Bei der Annahme der Einladung war ihr wohl die Zugehörigkeit der Akademie zur Evangelischen Kirche entgangen. Sie war nahe daran, sofort abzureisen. Sie blieb dann aber doch und trug zu einem gelungenen Abend bei.
Später kam mir der Gedanke, ob die Faszination, die das ehemalige Kloster Breitenau mit seiner Geschichte auf die documenta-Leiterin ausübte, nicht auch ein Beleg für ihre kirchenkritische Haltung war – weil an dem Ort deutlich wurde, was sich alles im Zeichen des Kreuzes innerhalb der Kloster- und Kirchenmauern abspielen kann. Denn das ehemalige Benediktiner-Kloster Breitenau südlich von Kassel, das äußerlich immer noch wie ein Gotteshaus aussieht, diente ab 1874 als Arbeitshaus, Gefängnis, Konzentrationslager und Heim für sogenannte schwererziehbare Mädchen. Kein Teilnehmer der dOCUMENTA (13) konnte sich der Auseinandersetzung mit diesem Ort entziehen, denn alle Künstler wurden von CCB auch nach Breitenau gelotst.
Carolyn Christov-Bakargiev rieb sich an allem Kirchlichen. Vor diesem Hintergrund war es schon eine gezielte Provokation, dass CCB ihren dickleibigen Katalog (816 Seiten, HatjeCantz Verlag) Das Buch der Bücher nannte und damit den Titel wählte, der bisher stillschweigend der Bibel vorbehalten war. Ebenso erklärt die Kirchen-Phobie die Überreaktion der documenta-Leiterin auf die Tatsache, dass die katholische Kirche in den offenen Turm der Elisabethkirche am Friedrichsplatz eine Figur von Stephan Balkenhol mit ausgestreckten Armen auf einer goldenen (Welt-)Kugel stellen ließ und damit die Skulptur zum triumphalen Kreuz wurde. Die vermeintliche Kunst-Konkurrenz zur documenta war für CCB sicher das kleinere Übel im Vergleich zu dem Umstand, dass die Kirche die Lufthoheit über den zentralen Platz der documenta übernommen hatte.
Das Erlebnis in der Evangelischen Akademie Hofgeismar ließ mich später, nach Eröffnung der Ausstellung, kritisch danach fragen, ob und wo in der dOCUMENTA (13) Spuren des Religiösen zu entdecken seien. Ich wurde schnell fündig und stieß auf das Paradox, dass ausgerechnet der Künstler, der den größten und spektakulärsten Auftritt in der documenta-Halle hatte und der zum Schluss der Ausstellung zudem mit dem Arnold Bode-Preis (nicht ohne CCBs Zuspruch) geehrt wurde, konsequent von dem Klang der Maschinen zur religiösen Versenkung und religiösen Bekennerschaft überleitete: Der Frankfurter Künstler Thomas Bayrle (Jahrgang 1937), der vor vier Jahrzehnten zu den Wortführern der deutschen Pop-Art gehörte, überraschte mit einer Melange aus perfektionierter Technik, Schönheit der Ingenieurkunst und der Inbrunst kirchlicher Gesänge und Gebete.

Bayrle 1 Abendmahl

Nach eigenem Bekenntnis lag es Bayrle fern, zu provozieren oder abwertend an Gebetsmühlen zu erinnern. Im Gleichklang der aufgeschnittenen Motoren aus Automobilen und Flugzeugen mischte er in die Geräusche der Maschinen mit Aufnahmen aus Gottesdiensten und Messen. Damit, so klang seine Assoziation, wurden die Gebete und die Gesänge wieder mit der Kunst der Konstrukteure in jener Einheit zusammengeführt, in der sie sich einst in der Gotik befanden. Das bete und arbeite war wieder eins, und Bayrle führte uns vor, dass im Klang der Maschinen die Stimmen der Andacht hörbar werden. Dabei knüpfte er auch an frühe Erlebnisse an, als er in einer Weberei arbeitete und den Takt der Webstühle als einen Klangteppich empfand. Andererseits: Beten viele von uns nicht die Kraft der Maschinen an?
Es war schon überraschend, gerade an so exponierter Stelle einen Künstler mit seinen Werken zu sehen, der eine Gegenposition zu der künstlerischen Leiterin bezog. War das eine Ausnahme, oder gab es in der Ausstellung noch andere Spuren des Religiösen?
Beim Nachdenken fiel mir als erstes die Arbeit von Kudzanai Chiurai (Jahrgang 1981, im Kulturbahnhof) ein – eines Künstlers aus Simbabwe, aus einem Land also, in dem die überwiegende Mehrheit der Menschen Christen sind und in dem trotzdem Gewalt und Mord zum Alltag gehören. Wenn Chiurai – wie in seinem documenta-Beitrag – das letzte Abendmahl Jesu als Ausgangsmotiv für seine Foto- und Videoarbeiten nimmt, dann kann er davon ausgehen, dass die Menschen in seiner Heimat wissen, worauf er sich bezieht. Und wenn er die Szene, in der Christus das Sakrament des Abendmahls einsetzt, in eine Gewaltorgie verwandelt, in der an Stelle des Erlösers eine elegant gekleidete Frau das Zentrum bildet, dann werden wir Zeugen einer Perversion. Die Szene ist weit entfernt von religiöser Sinnstiftung oder Verheißung. Die Wahl des Motivs lässt aber unmittelbar die Frage nach der Mitschuld der christlichen Kirchen an dem Zustand in dem afrikanischen Land stellen.
In dieser Beziehung ist Chiurais Arbeit nicht weit entfernt von dem, was Wael Shawky in seinem documenta-Beitrag Cabaret Crusades in der Neuen Galerie bot – zwei Filme mit historischen Marionetten, die die Geschichte der Kreuzzüge aus arabischer Sicht in drastischer Form erzählten. Es waren zwei Filme, die immer wieder faszinierten, weil die Kulissen und die grotesken Puppenköpfe so einzigartig erschienen und weil das, was erzählt wurde, so erschütternd und grausam war.
Erschienen abseits von Bayrles betenden Motoren in der dOCUMENTA (13) die christlichen Bezüge nur als Zerrbilder? Bestand durchgehend eine Religionsfeindschaft? Nein, im Gegenteil: Es gab sogar eine Arbeit die das hohe Lied der christlichen Demut und Barmherzigkeit anstimmte: Die Frankfurter Künstlerin Andrea Büttner (Jahrgang 1972) hatte ihre Arbeit in der Neuen Galerie dem 1939 gegründeten Orden Die kleinen Schwestern Jesu gewidmet. Die in dem Orden tätigen Schwestern widmen sich vor allem den Menschen, die mit Zirkus- und Kirmeswagen unterwegs sind. Sie verkörpern so etwas wie die Idee des Urchristentums. Insofern bildete Andrea Büttners Beitrag das Gegenbild zu dem, was Chiurai und Shawky aus der Geschichte des Christentums erzählten.

Shawky Büttner 1 Ali 1

Auch der afghanische Künstler Khadim Ali (Jahrgang 1978) verarbeitete in seiner vierteiligen Miniaturmalerei ganz unmittelbar religiöse Motive: Im Hintergrund war eine monumentale liegende Buddhafigur zu sehen, vor der Dämonen agieren. Ali entnahm sein Motiv dem zentralasiatischen Heldenepos Shahnameh (Buch der Könige), dessen zentrale Figur Rostam ist. Den Kriegshelden Rostam, den sich die Taliban zu eigen gemacht haben, stellt Ali nun als Dämon dar. Uns, die wir im abendländischen Raum leben, berühren diese Gestalten besonders, weil sie mit ihren roten Körpern und Hörnern einerseits Teufelsfiguren verkörpern, mit ihren großen weißen Flügeln andererseits Engeln ähneln und somit die Gegensätze uralter Jenseitsvorstellungen vereinen.

Ivekovic 1 Ivekovic 2

In demselben Galeriegang befand sich die komplexeste Installation in der Neuen Galerie. Gestaltet hatte den Raum Sanja Ivekovic (Jahrgang 1949), die den meisten Besuchern mit ihrem Mohnfeld auf dem Friedrichsplatz (2007) in guter Erinnerung war. Für ihren zweiteiligen Beitrag The Disobedient (Reasons for Inprisoment/The Revolutionaries)hatte sie auf Material zurückgegriffen, das mit der Nazi-Zeit in Kassel und mit dem ehemaligen Benediktiner-Kloster in Breitenau zu tun hatte: Sie war auf eine bürokratische Auflistung von Gründen für eine Inhaftierung von angeblich Arbeitsscheuen gestoßen. Diese Liste hatte sie auf Plakate drucken lassen, die im Stadtgebiet Kassels ausgehängt wurden.
Die meisten Besucher fühlten sich ertappt, weil sie zuerst diese Dimension nicht wahr genommen hatten und nur entzückt auf die Vitrine schauten, in der lauter kleine Stoffesel zu sehen waren. Wenn sie jedoch vor den Eseln Namensschilder wie Che Guevara, Walter Benjamin oder Sophie und Hans Scholz registrierten, stutzten sie, um dann festzustellen, dass eben alle diese Prominenten, die durch Esel verkörpert wurden, Menschen waren, auf die entweder die Verhaftungsgründe zutrafen oder die Widerstand gegen Verfolgung und Unterdrückung geleistet hatten.
Aber warum Esel? Die Antwort gab die Reproduktion eines Fotos, das am 4. April 1933 in der Hessischen Volkswacht erschien und das alle Menschen an den Pranger stellte, die immer noch bei Juden einkauften. Zu sehen war ein Esel in einem Stacheldrahtverhau, der von einer großen Menschenmenge umstanden war. Unverblümt wurde der Stacheldrahtverhau als Konzentrationslager für die uneinsichtigen und – wie Esel – störrischen Bürger vorgestellt. Wer wollte schon ein dummer Esel sein und im Konzentrationslager landen?
Der Esel war damit wieder einmal als traurige und eigensinnige Kreatur dargestellt worden. Doch mit Sicherheit hatten jene Nationalsozialisten, die sich diese Inszenierung ausgedacht hatten, bewusst oder unbewusst daran angeknüpft, dass es eine lange Geschichte der Verspottung der Juden und frühen Christen als Esel gab. Der Esel, dem man alles aufbürden konnte und der das schwache Gegenbild zum stolzen Pferd war, eignete sich hervorragend als Sinnbild für die verachteten Juden.
Der Esel wurde oft gern verspottet. Gleichzeitig galt er aber immer wieder auch als ein besonders feinfühliges und vor allem herausragendes Tier. Die Judaistik-Professorin Gabrielle Oberhänsli-Widmer (Freiburg) hat in ihrem Aufsatz … so sind wir Esel auf diese Ambivalenz bei der Zuordnung von Eigenschaften des Esels hingewiesen. So heißt es bei ihr:
Bereits das Alte Testament zeigt den Esel in einem breiten Spannungsfeld von
Hintergründigem und Abgründigem, von feinem Humor und blankem Horror. Wohlbekannt ist die kluge Eselin des Sehers Bileam, die im Gegensatz zu ihrem Meister den
Engel des Herrn sieht – was, nebenbei gesagt, nicht das beste Licht auf die beruflichen
Qualitäten Bileams wirft (Num 22,21-35). Bekannt ist auch das märchenhafte Motiv
des jugendlichen Saul, der auszieht, die verloren gegangenen Eselinnen seines Vaters
zu suchen und dabei ein Königreich findet (1 Sam 9,1-10,16).
Weniger bekannt, wie in einer literarischen Nische von einem einzigen Vers,
steht dann eine religionsgesetzliche Notiz, derzufolge das Eselsjunge ausgelöst werden soll, dem israelitischen Erstgeborenen gleich. Eine kleine, aber bemerkenswerte
Notiz, die in der Gesetzgebung am Sinai zweimal auftaucht, denn ausgerechnet der
Esel – wohlgemerkt ein halachisch unreines Tier – wird hier mit demselben Ritus wie
der Mensch behaftet (Ex 13,13; 34.20).
Aber diese anerkennenden Beschreibungen wurden überlagert durch die Schilderungen des römischen Geschichtsschreibers Tacitus. Zwar hatte er richtig den jüdischen Gottesglauben als abstrakt und bildlos beschrieben, doch meinte er an anderer Stelle, die Juden würden den Esel als Gott verehren, weil sie bei ihrem Zug durch die Wüste von Wildeseln an eine Quelle geführt und vor dem Verdursten gerettet worden seien.
Möglich, dass Tacitus in diesem Fall einem Irrtum erlegen ist. Schließlich soll es im ägyptischen Raum mehrere Religionen und Kultusbräuche mit der Verehrung von Eseln gegeben haben. Aber seine Darstellung (und Verspottung) blieb an den Juden hängen. Und da das frühe Christentum im Römischen Reich nicht als eine eigene Religion, sondern als eine Sekte des Judentums angesehen wurde, kam es dazu, dass die Eselsverspottung auch auf die Christen übertragen wurde. So gilt es in der Kirche als tragisch, dass die erste erhalten gebliebene Darstellung des Gekreuzigten ein Spottbild war: Jesus am Kreuz wurde auf einem Graffiti aus dem dritten Jahrhundert in einer römischen Wachstube mit einem Eselskopf gezeichnet: Alexamenos sebete theon (Alex verehrt Gott).
In der christlichen Überlieferung selbst nimmt der Esel eine herausragende Stellung ein, ihm fällt fast eine Schlüsselrolle zu:
* Er steht bei der Geburt Christi im Stall. Das ist zwar nicht im Neuen Testament überliefert, doch bei Jesaja findet sich der geistige Hintergrund für diese Darstellung: Das Rind kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn. Israel erkennt nicht, mein Volk hat keine Einsicht
(Jesaja 1. 3)
* auf der Flucht nach Ägypten reitet Maria mit ihrem Kind auf einem Esel;
* und auf einem Esel zieht Christus in Jerusalem ein.
Der Esel wird in diesen biblischen Szenen zu einem Tier der Treue und Bescheidenheit; er ist Helfer und Begleiter der Menschen und er steht – im Gegensatz zum Pferd – für die Friedfertigkeit.
Die Suche nach dem Religiösen in der dOCUMENTA (13) darf man allerdings nicht überstrapazieren: So erscheint mir die Vorstellung abwegig, der Windhauch, den Ryan Gander durch das nahezu leergeräumte Erdgeschoss des Fridericianums wehen ließ, könne im pfingstlichen Sinne als das Wirken des Geistigen verstanden werden. Eher sollte man daran denken, dass mit dieser Arbeit der Kunst eine neue Ebene erschlossen

11. 12. 2012

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