Ausstellung Lutz Freyer im Verwaltungsgerichtshof
„was willst du wissen – 32 Zeichnungen, 13 Projekte für die Umsonstigkeit und 1 Stadtteilmuseum“
Im vorigen Jahrhundert hat sich im Umgang mit der zeitgenössischen Kunst der Begriff „white cube“ (weißer Kubus) durchgesetzt. Der weiße Kubus ist deshalb so beliebt geworden, weil er einen neutralen, voraussetzungslosen Ausstellungsraum zu ermöglichen scheint. Die vier weißen Wände treten hinter das gezeigte Werk zurück und lassen vergessen, was vorher darin zu sehen war. Es ist, als wäre alles auf den Punkt Null zurückgeführt. Natürlich ist das nicht völlig richtig, aber es sind immer wieder Neuanfänge möglich.
Ein solcher white cube ist auch Bestandteil dieser Ausstellung. Das Bildhauer-Ehepaar Lutz und Silvia Freyer experimentiert seit sechs Jahren mit einer Form, die für sich genommen eine turmarige Skulptur ist und in Augenhöhe Fensterscheiben enthält, die den Blick in einen kleinen white cube ermöglichen. Der Vitrinenraum ist ein leeres Miniaturmuseum, ein Experimentierfeld. Entscheidend an ihm ist, dass er von dem Künstlerpaar zur Verfügung gestellt worden ist und von anderen benutzt und gefüllt werden kann.
Stadtteilmuseum nennen Lutz und Silvia Freyer ihr Projekt, das seit Herbst 2007 mit acht Ausstellungen seine erste Bewährungsprobe im Stadtteil Rothenditmold bestand. Die Bewohner des Stadtteils waren dazu aufgerufen, den Vitrinenraum mit den für sie wichtigen Dingen zu bestücken. Die Skulptur schuf und bot Raum für Interaktionen und zog sich selbst aus dem Blickfeld zurück.
Nun macht das Stadtteilmuseum für die Dauer der Ausstellung auch hier im Verwaltungsgerichtshof Station und wartet darauf bespielt und benutzt zu werden. Ich denke, gedanklich könnten Sie sofort beginnen, denn jeder von Ihnen hätte eine oder mehrere Ideen, was Sie in dem kleinen white cube zeigen könnten. Und wenn Sie sich erst einmal eine solche Projektion konkret vorgestellt haben, ist die Vitrine aus Ihrer Sicht dauerhaft gefüllt – auch wenn sie in Wahrheit noch immer leer ist.
Lutz und Silvia Freyer gehören zu der Künstler-Generation nach Joseph Beuys. Deshalb ist es für sie selbstverständlich, nicht bloß Kunstwerke im Atelier zu produzieren, um dann, wenn sie fertig sind, geeignete Plätze und Räume zu suchen, sondern ihre Kunst in der Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum und mit den Menschen, die damit angesprochen werden sollen, entstehen zu lassen.
Für den öffentlichen Raum gedacht sind auch die 13 Projekte für die Umsonstigkeit, die den zweiten Teil der Ausstellung bilden. Vielleicht geht es Ihnen wie mir, dass Sie, selbst wenn Sie nicht ahnen, wohin Lutz Freyer genau zielt, fasziniert sind von dem Begriff Umsonstigkeit. Er wirkt so, als sei er aus der Zeit gefallen – uralt, umständlich und gespreizt und dazu noch doppeldeutig. Lutz Freyer hat ihn nach eigenem Bekenntnis bei Ivan Illich gefunden. Auch Theologen nutzen das Wort gern, wenn sie von der Gnade und den Geschenken des Glaubens sprechen. Bezeichnenderweise wird im Internet die Umsonstigkeit mit der Allinclusive-Mentalität gleichgesetzt: Es ist alles kostenlos zu haben. Dabei kann mit dem Begriff genauso gut die Vergeblichkeit allen Bemühens gemeint sein.
Doch für mich ist das Wort Umsonstigkeit auch deshalb so faszinierend, weil es meinen Blick auf jenen Künstler lenkt, bei dem die Freyers in Düsseldorf studierten und der sie zu Meisterschülern machte. Sie alle kennen diesen Mann, wenn Sie die Künstlernekropole im Habichtswald kennen, denn dort hat Fritz Schwegler als dritter sein Grabmonument errichtet.
Der Bildhauer Schwegler ist auch ein vorzüglicher Zeichner und Erzähler. Und im Reden zu seinen Bildern pflegt er eine Sprache, die ebenfalls außerhalb der Zeiten und Moden zu existieren scheint. Das Wort Umsonstigkeit hätte Schwegler erfunden haben können.
Die 13 Projekte für die Umsonstigkeit, die in dieser Ausstellung gezeigt werden, sind erst einmal kleine bescheidene Zeichnungen, ergänzt durch Texte voller Überraschungen und Sprengkraft. Lutz Freyer lässt seinen manchmal absurden Visionen freien Lauf, um mit Hilfe von Eingriffen in den Stadtraum beliebte Ordnungen in Frage zu stellen oder Sichtweisen umzukehren. Manchmal bewegen sich die Projekte am Rande des Größenwahns – etwa wenn Freyer vorschlägt, das Museum Fridericianum mit Beton zu verfüllen, damit dann, wenn der Beton durchgehärtet ist, das Gemäuer abgetragen werden kann, um die darin verborgene Betonskulptur freizulegen. Oder wenn die Herkulesfigur, die über der Stadt thront, so gedreht werden soll, dass die Kasseler endlich mal freien Blick auf die hinter dem Rücken verborgene Hand mit den drei Äpfeln der Hesperiden haben. Oder wenn ein leer stehendes Mehrfamilienhaus so abgedichtet wird, damit es als ein großes Aquarium genutzt werden kann.
In den Handlungsanweisungen für die Projekte der Umsonstigkeit findet man aber auch durchaus umsetzbare Vorschläge für plastische Aktionen und Performances – wie in dem Blatt, in dem Freyer vorschlägt, in einer dicht befahrenen Straße auf jeder Seite jeweils zehn in grauem Filz gekleidete Menschen unmittelbar an den Fahrbahnrändern Aufstellung nehmen zu lassen. Oder es entstehen vor unseren Augen liebenswerte Skupturen-Ideen – etwa wenn auf dem Friedrichsplatz zwischen dem Denkmal für Friedrich II. und den Erdkilometer zwei Badewannen parallel in den Boden eingegraben werden sollen und von ihnen nur die Ränder als langgezogene runde Formen sichtbar bleiben. Hier ebnet der Zeichner dem Bildhauer den Weg.
Damit habe ich mich auf einem längeren Umweg dem Kern der Ausstellung genähert – den 32 Zeichnungen. Diese Blätter bilden einen winzigen Ausschnitt aus einem umfangreichen Werk. Denn Lutz Freyer ist ein unermüdlicher Zeichner, der seit Jahren regelmäßig Skizzenbücher füllt. Aus Hunderten von Zeichnungen wurden für diese Ausstellung einige wenige ausgewählt.
Für mich sind diese Skizzenbücher als eine besondere Form von Tagebüchern zu verstehen. Es sind Fingerübungen des Zeichners, der sich der Linie anvertraut und prüft, wie viel Aufwand notwendig ist, um aus einem Kraftzentrum von Strichen ein Gesicht herauszuarbeiten oder um einen versunken zuhörenden Mann ins Bild zu bringen. Es sind Stimmungsbilder, Visionen von Dingen, die vorstellbar, aber nicht wirklich sind, plastische Gebilde, Land-art-Schöpfungen.
Die Skizzen erlauben es uns, dem Zeichner bei der Arbeit über die Schulter zu blicken und an der Entfaltung von Bildvorstellungen teil zu haben. Bei der Vorbereitung der Ausstellung gab es einen Moment, in dem überlegt wurde, ob es denn Sinn mache, jedes einzelne Skizzenblatt zu rahmen. Denn die Zeichnungen wollen nicht als in sich abgeschlossene Werke verstanden werden, sondern sind eher als Stationen eines endlosen Prozesses anzusehen. Ihre Grundanlage ist spontan, sie fixieren Momentvorstellungen. Sind sie wirklich eigenständige Bilder ?.
Manche Skizzen geben sich beiläufig, ja unbeholfen und naiv. Schaut man sie sich aber genauer an, spürt man jedoch die Raffinesse, die ihnen zugrunde liegt. Nehmen Sie die unscheinbare Zeichnung, auf der man nicht mehr als zwei ausgestreckte Arme sieht. Immerhin sind die Arme und Hände aufeinander bezogen. Doch den Kopf und Körper dazu hat uns der Zeichner verweigert. Oberhalb der Handgelenke sehen wir zwischen den Armen eine dünne Linie. Das könnte die Kante eines Tisches sein, auf dem die Hände liegen. Damit würde eine Ruhephase angedeutet, in der die Hände nichts tun. Geheimnisvoll wird die Zeichnung allerdings durch die beigegebene Zeile „wenn ich zeichne bin ich nicht zu Hause“. Heißt das in der Umkehrung: Wenn ich zu Hause bin, zeichne ich nicht? Die ausgesteckten Arme und Hände scheinen das zu bestätigen. Aber was wissen wir genau?
Wir werden in ein Verwirrspiel hineingezogen, Freyer macht uns zu einem Teil einer Groteske.
Überhaupt die Hände: Auf einem anderen Blatt sehen wir eine ungelenk gezeichnete Hand. „Hand Gottes“ heißt das Blatt. Damit gibt uns der Zeichner ein Sprachbild zurück, das wir gern unreflektiert nutzen, wenn wir von einer Sache meinen, Gott habe da seine Hand im Spiel gehabt. Die Hand muss oft gebraucht worden sein, sie wirkt abgenutzt. Von der Klarheit und Schönheit der Hand Gottes in Michelangelos „Schöpfung“ kann nicht mehr die Rede sein. Hier rückt der Zeichner in die Nähe der Cartoonisten. Ganz ähnlich wie in der Zeichnung, in der Lutz Freyer sich selbst als Beobachter des Eventkünstlers Jeff Koons zeigt.
Die ausgestellten Skizzen offenbaren den Reichtum der Visionen, die Lutz Freyer hat und in der knappen Form umreißt. Am faszinierendsten sind dabei immer wieder die Köpfe und Gesichter, die mal grob umrissen sind und doch über einen entlarvenden Blick verfügen, oder die zu einem leichten, versunkenem Schmunzeln neigen – wie in dem Bild, in dem wir ein vollendetes Gesicht vor einem Kopfumriss sehen. Dieser Doppelkopf nimmt vielleicht auch deshalb gefangen, weil die Linie der linken Augenbraue unmittelbar in die Nasenlinie übergeht.
Je länger wir uns auf die so unscheinbar wirkenden Zeichnungen einlassen, desto reicher werden die Entdeckungen, beispielsweise auch, wenn man sich auf Lutz Freyers Umgang mit der Farbe einlässt.
Die meisten Skizzen sind Bleistiftzeichnungen, also schwarzgrau auf Weiß. Umso auffälliger sind die Blätter, in denen Freyer zusätzlich Farbstifte einsetzt. Eine Skizze hebt sich besonders heraus. Aus der Ferne wirkt das Blatt wie eine bunte Spielwiese. Farbige Kringel schweben über dem Grund. Die Farbkreise krönen Säulen oder Stelen. Man könnte sagen, die Komposition wirkt heiter, wäre da nicht der Titel Ungeborenenfriedhof .
Haben Sie sich jemals jemals zuvor mit einem Ungeborenenfriedhof beschäftigt? Kaum – oder? Aber so, wie er in der Zeichnung erscheint, ist er denkbar. Das anfangs als absurde Vision empfundene Blatt füllt sich, je länger man sich damit auseinandersetzt, mit Partikeln aus der Wirklichkeit. Eine heitere Projektion dessen, was hätte sein können.