Zeichnen – 8 Positionen

Ausstellung in der d:gallery, 9. 6. 2013

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
als mich die Initiatoren dieser Galerie fragten, ob ich Lust hätte, für diesen Raum eine Ausstellung zu kuratieren, stand für mich sofort fest, dass ich, wenn ich zusagen würde, eine Ausstellung mit Zeichnungen vorschlagen würde. Das hat zum einen damit zu tun, dass ich eine außerordentliche Vorliebe für das Medium Zeichnung habe und dass ich schon oft in Katalogen oder Eröffnungsansprachen zeichnerische Werke würdigen durfte.
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Zum anderen fühle ich mich als Anwalt der Zeichnung, weil sie zwar prinzipiell hoch geschätzt, aber dann doch anderen klassischen Medien untergeordnet wird und zudem aus konservatorischen Gründen nur sehr begrenzt ausgestellt wird. Außerdem werden der Charakter und die Funktion der Zeichnung viel zu selten untersucht. So bin ich Michael Gibb und Rainer Henze dankbar, dass sie mit meinem Vorschlag einverstanden waren und mir bei der Umsetzung freie Hand ließen.
Zu danken habe ich vor allem den Künstlerinnen und Künstlern sowie Nachlassverwalterinnen, die sich auf das Experiment mit mir eingelassen haben und die mir in den Ateliers auch verborgene Mappen und Schubladen öffneten. Sie haben mir großartige Entdeckungen ermöglicht und in dem einen oder anderen Fall zugestimmt, auch solche Arbeiten zu zeigen, die zuvor nicht unbedingt für die Öffentlichkeit gedacht waren. Entscheidend war der Wunsch, nicht das zu nehmen, was als typisch für das jeweilige Werk gilt, sondern einen Zyklus auszuwählen, der die Kraft und Intensität des Zeichnens bezeugt und der sichtbar macht, wie eine Vorstellung manchmal bis zur Erschöpfung ausgereizt wird. Wer von Ihnen den einen Künstler oder die andere Künstlerin gut kennt, wird vielleicht überrascht sein, was er hier zu sehen bekommt. Ich hoffe sehr, dass Sie meine Begeisterung teilen.
Ich habe der Ausstellung den Titel „Zeichnen“ gegeben, um das Prozesshafte zu betonen, um klar zu machen, dass es um das Bild-Werden geht und um die unterschiedlichen Herangehensweisen an das Bild. Mal haben wir eine Zeichnung vor Augen, die wie eine flüchtige Skizze wirkt, dann wieder können wir auf eine Komposition blicken, die bis ins kleinste Detail durchgestaltet ist. Für alle hier vertretenen Künstlerinnen und Künstler gilt übrigens, dass die traditionelle Unterscheidung zwischen gegenständlicher und abstrakter Kunst nicht mehr von Bedeutung ist. Immer wieder setzen sich freie Formen durch und immer wieder erkennt man auch figürliche oder erzählerische Elemente.
Der Einladung konnten Sie entnehmen, dass hier acht Künstlerinnen und Künstler aus Kassel vorgestellt werden. Die Zahl acht hat sich für mich durch die Gliederung der Galerie ergeben. Denn die einzelnen Werkgruppen sollten dem Umfang nach gleichgewichtig präsentiert werden. Die Aufteilung der Wandflächen sollte also den Anschein einer Hierarchie vermeiden. Gleichwohl sind zwei Werkgruppen herausgehoben. Es handelt sich um die Zeichnungen von Adolf Buchleiter und Maarten Thiel, die miteinander befreundet waren, die meiner Einschätzung zufolge zu den wichtigsten Zeichnern der vergangenen zwei, drei Jahrzehnte gehörten und die 2000 bzw. 2008 starben. An sie ist stets zu denken, wenn man von zeitgenössischer Zeichnung in Kassel spricht. Deshalb ist ihnen das Zentrum der Galerie gewidmet: Ihre Bilder sind an den beiden Stellwänden in der Raummitte zu sehen – gedacht als eine späte Ehrung.
Lassen Sie mich mit den Zeichnungen von Adolf Buchleiter beginnen, der Professor an der Kunsthochschule war, dessen Arbeit sehr geschätzt wurde, von dessen reichem zeichnerischen Werk die meisten jedoch erst kurz vor seinem Tod durch eine Ausstellung im Kunstverein erfuhren. Buchleiter war ein manischer Zeichner, der Riesenformate mit dicht an dicht gedrängten Figuren füllte. Es waren zuweilen Alptraumszenarien. Hier nun lernen wir ihn mit einer Serie stiller, meditativer Naturstudien kennen. Die Tuschezeichnungen bilden eine Werkreihe an der Grenze zur Malerei, in der die Erforschung der Hell- und Dunkeltöne wichtiger ist als das Studium der akribisch ausgeführten Formen. Die „Blumen der Nacht“ ruhen in sich und strahlen aus ihrer Dunkelheit.
IMG_8179a IMG_8548a Buchleiter konnte aber auch bissig sein und seine Zeichenkunst karikierend einsetzen. In der Serie „Rache an Sylt“ stellt er sich mit spontan hingeworfenen Kugelschreiberzeichnungen vor. Die Beobachtungen am FKK-Strand auf Sylt hatten ihn zu dieser Abrechnung herausgefordert. Noch bei der Betrachtung kann man aus den hin- und herfahrenden Linien die Lust und die spöttische Wut herauslesen. Auch kann man nachvollziehen, wie sich die Linien verdichten und sich aus ihnen Körper bilden.
Maarten Thiel war auf allen Feldern der bildenden Kunst zu Hause. Er zeichnete und radierte, malte, entwarf Skulpturen und entwickelte Kunst am Bau-Projekte. Ich habe ihn mal einen „zeichnenden Maler“ genannt, weil das Malen in seinem Schaffen überwog, er aber immer wieder Phasen hatte, in denen er vornehmlich zeichnete. Die hier ausgestellten Bilder entstanden zwischen 2004 und 2007, repräsentieren also seine letzte zeichnerische Schaffenszeit.
IMG_8332a IMG_8577aMaarten Thiel legte stets Wert darauf, sich dem einmal begonnenen Bild zu überlassen. Das heißt, dass Kopf und Hand nur das umsetzten, was die Komposition vorgab. Die einzelnen Formen, zu deren Ausführung er sich anregen ließ, hatte er seit langem im Kopf – Blattstrukturen aus der Botanik, Boote und Segel, Flechtwerke und Bambusstämme, Lochplattem und Messinstrumente. Die illusionistischen Elemente führte er so detailgenau aus, dass eigenartig reale und am Ende doch surreale Welten entstanden. Maarten Thiel hatte die Perfektion vor Augen und mied sie in letzter Konsequenz, indem er die feine Ordnung durch gestische zerstörte. So holte er das Malerische in die Zeichnung herein.
Das eigenwillige, Verhältnis von Künstlern zu ihren sich autonom entwickelnden Komposition ist auch auf andere übertragbar. Maja Oschmann beispielsweise, die jüngst durch ihr Filmprojekt „virtuos – virtuell“ (mit Thomas Stellmach) bekannt wurde, ist eine Zeichnerin, die seit langem erprobt, wie sie sich ihrem Bild ausliefern und wie sie zu einer intuitiven, selbstbestimmten Zeichnung gelangen kann. So untersuchte sie, wie sie ohne Zuhilfenahme der Augen Formen übertragen kann, indem sie etwa mit der einen Hand das zeichnet, was die andere Hand beim Abtasten ihres Ohres erspürt.
IMG_8211a IMG_8570a In dieser Ausstellung präsentiert sie Blätter, die vornehmlich bei einem Musikworkshop in Liège, Belgien, unter der Leitung des Komponisten Peter Swinnen entstanden. Dabei setzte sich Maja Oschmann zum Ziel, gehörte Musik automatisch in Linien, Punkte und Flächen umzusetzen. Nicht die Künstlerin führte die Feder oder den Tuschepinsel, sondern die Musik. Ihre Zeichnungen bilden somit die Klangfolgen ab, sie sind Choreografien, die ihrerseits wieder Vorlagen für die Musik und den Tanz sein können. Ganz ähnlich hat sie das großformatige Farbbild gezeichnet, das 2005 bei der Live-Performance „Klangfarben – Farbklänge“ anlässlich der Kasseler Musiktage entstand.
Wir kommen immer wieder zu Grundfrage nach der Bildentstehung zurück. Die direktesten Antworten gibt Andrea Müller-Osten, die durch ihre Malerei bekannt geworden ist, in der sich aus dunklen Schichten und Räumen Formen herausschälen. Von ihr sind skizzenhafte Zeichnungen zu sehen, die uns ermöglichen, an dem Prozess teilzuhaben. Wir werden eingeladen, selbst die Antworten zu geben: Wie bildet sich aus einer Mauer ein Körper heraus? Oder wie entsteht auf einer Fläche ein Raumgefühl nur dadurch, dass die knapp umrissene ruhende Figur so dargestellt ist, dass wir die Beine vorne und den Kopf hinten sehen? Oder wie verwandelt sich eine Figur in eine Insekten ähnliche Gestalt?
IMG_7809a IMG_8583a Andrea Müller-Osten nutzt die Zeichnungen, um sich über Körper und Raum klar zu werden. Dabei eignet sie sich zuweilen Formen aus der Kunstgeschichte an. Eine besondere Vorliebe entwicke lte sie dabei für Philip Guston, der als abstrakter Expressionist berühmt wurde, am Lebensende aber zur einfachen erzählerischen Form zurückkehrte. Mehrfach finden Sie Hinweise auf diese Seelenverwandtschaft. Andrea Müller-Osten führt uns vor, wie aus ein paar knappen Linien ein Kosmos entstehen kann.
Auch der Bildhauer Lutz Freyer, von dem derzeit eine Ausstellung im Verwaltungsgerichtshof gezeigt wird, ist ein Künstler, der intensiv zeichnet. Er füllt ein Skizzenbuch nach dem anderen. Manchmal kann man sich vorstellen, dass eine Skizze der Vorentwurf zu einer Skulptur oder Installation sein könnte. In den meisten Fällen jedoch führen diese Skizzen in eine ganz eigene Richtung. Es sind meist pointierte Bildgeschichten, die durch ein Wort oder einen Halbsatz gewaltige Dimensionen eröffnen, selbst wenn die Zeichnung nur andeutet oder einen Torso zeigt.
IMG_8193a IMG_8551a Lutz Freyer muss, so stelle ich mir vor, mit einem Berg von Bildideen herumlaufen, von dem er nur ahnt. Aber dann, wenn er sich hinsetzt, um zu zeichnen, stellen sich die Bilder wie von selbst ein – immer etwas rätselhaft, mit einem Zug zur Heiterkeit, aber auch manchmal existenziell und erschreckend. Im Zentrum seiner Präsentation sehen Sie Bilder, die wie übermalt wirken. Freyer hat über die Bleistiftzeichnung mit dem Aquarellstift eine Schicht gelegt, die der eigentlichen Zeichnung zu einer faszinierenden Binnenstruktur verhilft.
Erika Breuer lernte ich als eine Schöpferin abstrakter Strukturen kennen, die aus der Kraft der Linie wirken und die in die Schwärze der Farben Licht holen. Erst sehr viel später sah ich, dass die Künstlerin systematisch Körperformen studiert und aus ihnen Strukturen ableitet, um dann wieder zu abstrahieren und dem Abstrahierten zu einer eigenen Dynamik zu verhelfen. Die Bleistift-Zeichnungen, die Sie hier sehen, würde man leicht als freie Kompostionen einstufen, in denen die gestischen Linien triumphieren.
IMG_7922a IMG_8567a Diese Beobachtung ist im Prinzip richtig. Doch der Ausgangspunkt ist ein anderer. Erika Breuer hat sich in dieser Serie „Doppelpack“ mit der Annäherung von paarweisen Körperfragmenten beschäftigt – wie sie sich berühren oder abstoßen, wie sie sich überlagern und fast zu einer Einheit werden und wie sie Energien freisetzen. Und doch lassen diese Formen den expressiven Linien mit ihrem metallischen Glanz den Vortritt.
Die Künstlerin Hildegard Jaekel hat sich mit ihren Gemälden aus Erden einen Namen gemacht. Über den Kunstbereich hinaus wurde sie durch ihr heiteres Denkmal „Der Stuhl des Chefredakteurs Karl Marx“ im Vorderen Westen bekannt. Dass sie auch zeichnet, wissen nicht viele Kunstfreunde. Umso mehr freue ich mich, dass sie für diese Ausstellung eine Zeichnungsserie herausgeholt hat, die weit von dem entfernt ist, was man normalerweise von ihr kennt. Es sind überraschend strenge, diszipliniert geometrische Kompositionen, in denen es um Flächen im Raum geht, um Verdrehungen, Überlappungen und Perspektiven.

IMG_7817a IMG_8544aDiese schwarzen Zeichnungen, die durch Klarheit und Weitläufigkeit überzeugen, sind aber aus einer ungeheuren Kleinteiligkeit von wabenförmigen Mustern entstanden. „Maschen“ nennt Hildegard Jaekel. In der Tat haben diese Blätter etwas mit Stricken zu tun, denn sie entstanden im Zusammenhang mit großen Strickobjekten, die die Künstlerin als hängende Objekte schuf. Man muss näher treten, um die Zeichnungen ganz zu erfassen, ihre engmaschige Struktur zu sehen und auch die gelegentlichen Bruchlinien zu erkennen.

Johann Rosenboom ist als Maler bekannt geworden, als ein Künstler, der in seinen Landschaften, Stillleben und Interieurs aus der Farbe heraus Licht und Schatten zu entwickeln versteht. Rosenboom bringt viel südliches Licht zu uns mit, denn er hat ein Atelier in der Emilia-Romagna, in der Region, in der Giorgio Morandi lebte. Aber auf dieser Landschaft liegen auch düstere Schatten: Am Monte Sole richteten zwischen dem 29. September und 1. Oktober 1944 deutsche SS-Truppen ein unsägliches Massaker an. Innerhalb von drei Tagen verwüsteten sie die Region und ermordeten über 770 Zivilisten.
IMG_7925a IMG_8559aSeit Jahren schon setzte sich Rosenboom mit dieser unvorstellbaren Tat auseinander, sprach mit Augenzeugen und Menschen, die das Gedenken lebendig halten wollten. Kann ein Künstler, der sich von den Vorgängen betroffen fühlt, mit seiner Arbeit angemessen darauf reagieren? Lange wusste er keine Antwort darauf, weil es ihm unmöglich schien, Jahrzehnte danach die Opfer darzustellen. Endlich fand er eine Lösung, indem er Zeichnungen schuf, die mit ihrer Düsternis und ihren gebrochenen und auslöschenden Linien zu Bildern des Todes und der Sprachlosigkeit, des Leidens und des Verlustes wurden. Die Kompositionen konzentrieren sich auf die Atmosphäre der Trauer und des Schmerzes. Sie verzichten auf alles Erzählerische. Allein der dominierende Berg, der Monte Sole, mit dessen Name sich das Massaker von Marzabotto verbindet, wird zum durchgängigen Zeichen aller Bilder.

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