Poesie und Kampf

Es passiert nicht oft, dass sich ein künstlerisches Werk auf Anhieb im Gedächtnis bildhaft einbrennt. 1998 war das so, als die Kasseler Kunsthalle Fridericianum unter dem Titel „Echolot“ neun Künstlerinnen vorstellte, von denen eine die in den USA lebende Iranerin Shirin Neshat (Jahrgang 1957) war. Ihre Fotos, meist in Schwarz-Weiß, rührten an. Hände und Füße waren da zu sehen, auf die lyrische Texte geschrieben waren, und Frauen, deren Gesichter und Schleier kalligrafische Texte trugen.

Doch diese stillen, poetischen Bilder verwandelten sich dadurch in Kampfansagen, dass zwischen den Füßen und über den Händen der Lauf einer Pistole hervorragte. Shirin Neshat wollte sichtbar machen, wohin die islamische Revolution im Iran letztendlich führte: Die in den schwarzen Tschador (verschleiernder Umhang) gezwungenen Frauen sind nicht nur Opfer und Märtyrerinnen, sondern auch mögliche Täterinnen.

ie Künstlerin sieht ihr Heimatland von außen – kritisch. Sie war im Iran als einem westlich orientierten Land aufgewachsen und musste bei ihrer Rückkehr nach elf Jahren feststellen, dass sie in ein System kam, das so hermetisch war wie früher die Sowjetunion. Shirin Neshat thematisierte die widersprüchliche Situation: Auf der einen Seite die folgenreiche Geschlechtertrennung im Iran, die sich darin manifestierte, dass die Frauen in Schwarz und die Männer in weißen Hemden auftreten; auf der anderen Seite die Vorurteile des Westens gegenüber dieser Gesellschaft.

Die Künstlerin fand eine äußerst poetische Sprache, mit der sie die Phänomene, die sie beschäftigen, einkreiste. Wenn sie zeigt, wie Männer in weißen Hemden innerhalb eines Festungsrings dicht beieinander in einem Kreis sitzen, und wenn sie dagegen ein Bild setzt, auf dem schwarz gewandete Frauen im dichten Pulk mit erhobenen Händen zu sehen sind. Es wird sofort verständlich, wie sehr sich Frauen und Männer in geschlossenen Kreisen bewegen. Großartig ist auch die Aufnahme, die von oben den Blick auf eine Kreuzung im Niemandsland zeigt. Da stehen sich eine in einen Tschador gehüllte Frau und ein Mann im Straßenanzug auf Abstand gegenüber und werfen lange Schatten. Die Bewegungen scheinen erstarrt zu sein, die beiden können nicht zueinander kommen.

Dabei sind die Bilder von Shirin Neshat nicht immer eindeutig. Häufig beschwören sie Szenarien, die geheimnisvoll bleiben. Das gilt auch für die Filme, die sie gedreht hat. In Kassel und in der Biennale von Venedig hatte sie eine Video-Doppelprojektion gezeigt: Ein Mann singt vor einem großen Auditorium in traditioneller Weise und wird umjubelt. Auf der gegenüberliegenden Seite sieht man anschließend, wie eine Frau vor leeren Zuschauerrängen Urlaute intoniert, um daraus einen kraftvollen Gesang zu entwickeln.
Die Kraft und Souveränität der Frau bedürfen keines Kommentars. Sie triumphiert im Stillen – denn öffentlich, das ist die Voraussetzung, auf der der Film fußt, hätte sie singend nicht auftreten dürfen.
HNA 31. 3. 2002

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