„Es kann nicht angehen, auch dann nicht, wenn ein historisch zugewachsenes schlechtes Gewissen vorliegt, wie in der Bundesrepublik, dass verfassungsmäßig garantierte Freiräume geschaffen werden, die allein zur Selbstverwirklichung genutzt werden und nicht dazu, Einsichten in die Bedingungen eigener Existenz zu vermitteln. So wie die Gesellschaft – oder Schichten in ihr – sich nicht parasitär zur Kunst verhalten darf, um eigene Defizite mit der linken Hand zu begleichen, so darf sich andererseits auch Kunst nicht parasitär zur Gesellschaft verhalten, verärgert getragen, geduldet und mit Versorgungsansprüchen versehen auch dort, wo die qualifizierende, kritische und erneuernde Leistung ausbleibt.“
Nehmen wir das als ein Motto, das man nachschmecken kann, weil es so gut aus der billigen Küche eines politischen Ideologen stammen könnte. Es wurde allerdings von einem Koch zubereitet, der für sein Haus gewiss drei Sterne reklamiert: Dieter Honisch, Direktor der Nationalgalerie Berlin, hat diese Sätze formuliert, um die Wür¬digung von Max Bill(1) einzuleiten.
Geschrieben und gesprochen im Herbst 1982: Kunst als bloße Selbstverwirklichung kann nicht angehen. Wer ist gemeint? Die Abstrakten oder die Aktionisten, die Monochromen oder die Medienanbeter, die Würdevollen oder die Wilden? Wohl doch nicht alle zugleich. Die Unberechenbarkeit der gegenwärtigen Situation, mit ihren vielen heftigen und leidenschaftlichen Ausbrüchen, macht, so scheint es, einigermaßen nervös. Immerhin gibt es neben der klassischen Moderne einen weiteren Posten zu verteidigen — den der Avantgarde.
Zwar ist die Avantgarde von einigen Experten längst totgesagt (2), doch der Posten wird noch eifrig gehalten, denn schließlich geht es hierbei um eine Sache, in der man hierzulande schon immer groß war — ums Prinzip. Das hängt damit zusammen daß einerseits der Avantgarde-Begriff in unserem Jahrhundert zu lange mit einem naiven Fortschrittsdenken verknüpft war und dass zum anderen die rational begründete Kunst einen Monopolanspruch für diesen Begriff zu haben glaubt. Da es aber nach dem Verzicht auf Veränderung eines leeren Ausstellungsraumes für einen Künstler keine merklichen Fortschritte mehr in der Fortführung der Abstraktion geben kann, mußte dieser verengte Avantgarde-Begriff an seine Grenzen stoßen.
Immerhin gibt es auch Experten, die das mit Avantgarde gar nicht so eng sehen. Bazon Brock beispielsweise, der, als andere schon lange Trauer trugen, eine neue Avantgarde feierte (3). Aber eben die ist in den Augen dritter schon wieder lahm und nur schlechte Reserve einer fehlenden Vorhut.
Wer hat recht? Wo geht‘s lang? Der Streit der Schulen ist im vollen Gange. Was aber hat das mit Kunst zu tun? Nichts – oder doch sehr viel, denn dieser kunsthistorische Streit um die Klassifizierung der Gegenwart und möglichst noch der Zukunft fördert nur den Überdruß an der aktuellen Kunst. Kein Wunder, dass der Bannstrahl gegen die Kunst als reine Selbstverwirklichung den Beifall jener findet, die schon immer gegen die Moderne waren. Noch entscheidender aber ist, daß die leidige Avantgarde Diskussion einen verkürzten Qualitätsbegriff hervorgebracht hat: wo es keine Avantgarde gibt, mangelt es an guter Kunst, haben Variisten und Kopisten das große Wort, folgert man.
Wo also bleibt die Kunst, wo profitieren die Künstler und mit ihnen ihr Publikum? Lange nicht ist so viel von junger Kunst geredet worden wie in diesen Tagen. So, als hätten die Akademien zwei Jahrzehnte lang nichts an Talenten hervorgebracht, nun aber sei der Durchbruch gelungen. Jugendfrische wird honoriert, auch wenn sie leicht angegraut ist. Es wird wieder gemalt, heißt eine der Losungen. Und tatsächlich fliegen zwischen Köln und Konstanz die Pinsel wie nie zuvor.
Dennoch befördert dieser Hang zum Neuen und Jungen nur wenig: Eine Bewegung verkürzt sich auf ein paar herausgegriffene Namen; ein paar Galeristen sind umge¬stiegen und setzen nun auf frisches Blut. Am Gesamtbild aber hat sich wenig verändert, zumal der enorme Zuwachs an Kunsthallen und Museen in den zurückliegenden Jahren mehr Gleichartiges in viele Häuser als Vielartiges in alle Häuser brachte.
Und schon ist absehbar, dass die intensive und schnelle Ausschöpfung der neuen Wellen eher das Nachlassen des Interesses an ihnen beschleunigt als die Kunstmarktkarrieren vieler Künstler. Und hier liegt die Gefahr, dass der Künstler, der um zwei Jahre zu spät auf dem Markt erscheint, abgeschrieben wird, ehe er recht notiert wurde. Kunst als eine Frage des rechten Zeitpunkts, der marktgerechten Strategie? Ist der also nur zum Künstler geeignet, der frühzeitig Lücken erkennt und sie unangefochten besetzt?
Was aber macht der, der sein Leben lang um einen Farbausdruck, eine Form kämpft? Ist er wirklich verloren oder hat er die Chance, alle 20 Jahre neu entdeckt und vergessen zu werden? Wer ist eigentlich schuld an der Situation? Die Künstler sind es am wenigsten. Natürlich registriert man auch bei Ihnen gelegentlich einen Verdrängungswett¬bewerb, doch der ist eine Randerscheinung. Ausschlaggebender ist der Stress, den Ausstellungsmacher, Galeristen, Kritiker und Publikum in wechselseitiger Be¬einflussung produzieren. Das dejä vu – schon gesehen — ist zu einer Art Abwehr¬mechanismus geworden: Hat man etwas kurz und flüchtig gesehen, dann kennt man sich aus; wehe dem, der da einen zweiten Rundgang erwartet. So verbraucht sich Kunst ganz schnell. Gleichzeitig hat sich das Fortschrittsdenken so festgesetzt, daß bei Jahresschauen stets nach neuen Tabubrüchen und Grenzerweiterungen Ausschau gehalten wird, weniger aber nach Verfeinerungen der Ausdruckskraft.
Ungeduld und Unfähigkeit zur ruhigen und wiederholten Betrachtung fügen der Kunst mehr Schaden zu, als die mögliche Verschwörung von Ausstellungsmachern, Galeristen und Kritikern für bzw gegen bestimmte Richtungen. Walter Grasskamp streitet auch zurecht entschieden gegen eine eindimensionale Verschwörungs¬theorie (4), ohne einen Coup der Verschwörer beschönigen zu können: das Kartell der Abstrakten gegen die Realisten im Nachkriegsdeutschland. Wir haben jetzt Mühe (und tun uns schwer), die realistische Kunst dieser Zeit uns anzueignen und aufzuarbeiten.
Greifbarer und fataler sind da schon regionale und lokale stillschweigende Übereinkünfte, die das Erscheinungsbild der Kunstszene auf eine Linie verengen. Düsseldorf gab lange Zeit Beispiel, was die geradlinige Sichtweite angeht.
Verändert sich dadurch Kunst? Bei den Epigonen gewiss und insofern schon umfänglich. Die anderen aber beißen sich durch und warten darauf, dass sie plötzlich (mit einer Welle) entdeckt werden.
Das Schlimmste an dem Kunstbetrieb bleibt eben doch der Novitätentrieb, der Kunst-märkte zu Erfindermessen degradiert. Da werden Schlagworte produziert und Mo¬den propagiert. Fast wie auf dem Taschenbuchmarkt ist jetzt das Ramsch, was im Frühjahr noch in der ersten Reihe stand.
Vielleicht steckt dahinter endlich doch eine Verschwörung, unbewußt zwar,aber aus-geprägt, so eine Art Kreislaufkrankheit: Die Schar der profesionell mit aktueller Kunst beschäftigten Ausstellungsmacher, Galeristen und Kritiker ist relativ klein und dabei sehr beschlagen, weil ständig unterwegs. Diese Leute stoßen einerseits immer wieder auf das Vertraute und wollen eigentlich auch nur das sehen, sind aber gleichzeitig von einer Unruhe nach dem Neuen besessen, das sie in Wahrheit nicht mögen. Das Vertraute wird zwar für verbraucht oder tot erklärt, damit aber auch glorifiziert und weit über das Neue erhoben.
Man kann den Gedanken weiterspinnen und behaupten, daß die Verzweiflung über tote und erlahmte Avantgarden nur Ausdruck einer schwierigen Abnabelung, also ein Generationsproblem sei. Immerhin sind die, die lenkend und streitend den Kunstmarkt geprägt haben, mit der von ihnen geförderten Kunst älter geworden und nicht mehr so ohne weiteres für jeden neuen Sproß empfänglich. Frei nach dem Motto: Was nach uns kommt, kann nicht Avantgarde sein. Oder: So freie, selbstbezogene Kunst war auch wieder nicht gemeint.
Nichts gegen Streit und nichts gegen Missverständnisse. Schwer wird es nur für das Publikum, sich da noch auszukennen, wenn die Experten als Opponenten (und dabei immer Platzhalter der Moderne) im Streit miteinander Worte und Argumente gebrauchen, die sie sich sonst von außen als Diffamierungen verbitten. Siehe etwa das Motto oder siehe Peter Idens Abrechnung mit den „hochgemuten Nichtskönnern“(5).
Das Schlimme ist, dass wir uns (alle) das Denken und Sehen in Kategorien, nach Schulen, Stilen und Wellen, einfach nicht abgewöhnen können. Kaum haben wir zwei verwandte Geister entdeckt, finden wir auch einen Namen für sie und blicken gar nicht mehr auf deren Produkte, sondern nur noch auf die selbstgemalten Etikette, eifrig darüber wachend, daß bei der nächsten Namensfindung uns keiner zuvorkomme. Dokumente dieses Dilemmas sind die alljährlichen Übersichts-Ausstellungen der regionalen und bundesweiten Künstlerverbände. Da werden die über Jahre beständigen Künstler zur grauen Masse, zum Brei, aus dem man sich nur noch die Rosinen des Neuen herauspickt. Die Kritiker mit ihren pauschalen Feststellungen und ihren Bemühungen, Trends herauszupulen, sind dabei nur die Vor¬beter einer Mentalität, die auf der Jagd nach dem Sensationellen ist und nicht nach dem Beständigen.
Auch hier liegt schon wieder ein Grund zum Missverständnis, der schnell ausgeräumt werden soll: Natürlich begeistert mich das Neue — erst einmal deshalb, weil es Bewegung schafft; doch mich kann auch die Arbeit faszinieren, an der man die Spuren einer zehn- bis zwanzigjährigen Entwicklung ablesen kann.
Was meist fehlt, ist die Einsicht, daß die ganzen Stil-, Wellen- und Avantgarde-Theorien die Erkenntnis verhindern, daß es nicht immer nur eine oder zwei Kunst-Richtungen gibt, sondern viele Künste. Es ist alles da — die ganze Fülle des 20. Jahr¬hunderts — man muß sie nur sehen wollen.
Anmerkungen
1) Dieter Honisch: A pell an die Vernunft. In Max Bill — Kunstpreis der Stadt Goslar — Kaiserring 1982, Mönchehaus Museum, Goslar, 1982, S. 5
2) u. a. : Eduard Beaucamp: Ende des Avantgardismus — was nun? In ‚ Das Kunstjahrbuch ’77/78 ‚,hrsg. von Horst Richter, Karl Ruhrberg, Wieland Schmied, Alexander Baier- Presse, Mainz, 1978, S. 24 ff.
3) Bazon Brock: Avantgarde und Mythos, Kunstforum 40, 4/80, Maintz 1980, S. 86 ff.
4) Walter Grasskamp: Modell documenta, Kunstforum 49, 3/82, Köln, 1982, S.16.
5) Peter Iden: Die hochgemuten Nichtskönner, Frankfurter Rundschau v. 18.7.1981, und Das Kunstwerk XXXIV , 6/1981, Stuttgart, S. 3 ff.