„Speculations on Anonymous Materials“ – Fridericianum, Kassel, 29.9. 2013 – 26. 1. 2014
Mit großer Selbstverständlichkeit bewegen wir uns in der digitalen Welt. Wir unterhalten uns mit Menschen, die Hunderte Kilometer von uns entfernt sind, als ob sie uns gegenüber säßen. Ja, mit denen zu sprechen, fällt uns unter Umständen leichter als mit unseren direkten Nachbarn. Aber gleichzeitig laufen wir Gefahr, in der Flut der Informationen und Bilder zu ertrinken, wenn wir bei Google oder sonst einer Suchmaschine eintauchen. Wir merken, dass wir den Boden unserer Realität unter den Füßen verlieren und tragen doch zu der Überfütterung bei, indem wir schnell noch von dem Skype-Gespräch Fotos machen. Das Virtuelle hat sich in unserer Existenz längst eingenistet und ist zu unserer zweiten oder sogar ersten Realität geworden.
Die Folgen, die sich daraus ergeben, können wir noch gar nicht abschätzen, weil wir erst einmal wie Kinder fasziniert sind von den ungeheuren Informationsquellen, die sich eröffnen. Doch wie finden wir aus dem Chaos heraus, wie können wir die eigenen und fremden Bilder, die sich ungefragt anbieten, ordnen, und was geschieht mit den Objekten und Körpern, die in unserer vertrauten Wirklichkeit Orientierung boten?
Susanne Pfeffer hat vor drei Jahren in Berlin die ersten Künstler getroffen, die versuchten, auf diese Entwicklung zu reagieren und dabei feststellten, dass die Kunstproduktion, die den schöpferischen Akt als zentrales Ereignis voraussetzt, in gewisser Weise überholt ist. Doch bald merkte die Kuratorin, dass auch in anderen Ländern Künstlerinnen und Künstler an ähnlichen Fragestellungen arbeiten. So entschied sich Susanne Pfeffer, als sie im Frühjahr zur Direktorin der Kunsthalle Fridericianum in Kassel berufen wurde, ihre erste Ausstellung diesem Thema zu widmen. In nicht ganz fünf Monaten recherchierte sie 100 künstlerische Positionen, unternahm 47 Atelierbesuche und wählte dann 23 Künstler und Künstlergruppen aus.
Die Ausstellung hat etwas Prozesshaftes. Die Offenheit der Räume trägt dazu bei, dass sich Querlinien durch die Ausstellung ziehen und Dialogsituationen ergeben. Der erste und wichtigste Befund aber ist, dass sich in dieser neuen medialen Welt sehr sinnliche Bilder, Objekte und Installationen ergeben. Es sind hochkomplexe Arbeiten. Die Künstlerinnen und Künstler, die sich wahl- und hemmungslos der Bilder, Fetische und Objekte bedienen, die die digitale Ebene und die Welt des Konsums bereit halten, arbeiten zwar mit anonymen Materialien, bleiben jedoch in der Rolle der Gestalter und Schöpfer. So entsubjektiviert die Fundstücke und deren Verarbeitung sein mögen, so unumstößlich bleibt die kreative Kraft der Künstler. Die Subjektivität mag hundertmal beiseitegeschoben sein, am Ende ist sie wieder da.
Ein hervorragendes Beispiel bietet in diesem Zusammenhang der Brite Sachin Kaeley (Jahrgang 1982) mit seinen kleinen Acryl-Bildern. Er führt uns vor, wie sehr unser steter Blick durch die digitale Brille unsere Wahrnehmung gestört hat. Denn wir neigen dazu, die Bildstrukturen erst einmal als digital hergestellte Oberflächen zu verstehen, bevor wir erkennen, dass hier die gute alte Malerei das Sagen hat. Dabei nutzt Kaeley das Wortspiel, das in dem Begriff digital steckt: Denn das Wort stammt aus dem Lateinischen, und digitus heißt Finger. Und die Bilder sind eben mit dem Finger gemalt.
Die Tatsache, dass unsere Hände die Brücken vom Körper zur digitalen Welt bilden und dass ein Finger den Curser durch das Bilderchaos steuert, mag dazu beigetragen haben, dass sich mehrere Arbeiten um Hände und Finger drehen. So hat die aus dem früheren Jugoslawien stammende Künstlerin Aleksandra Domanovic (Jahrgang 1981) auf eine in den 60er Jahren gemachte sensationelle Erfindung zurückgegriffen. Damals war es gelungen, eine Armprothese mit sensorischen Fähigkeiten herzustellen. Die Künstlerin hat nun die „Belgrader Hand“ nachgestaltet, indem sie den nächsten Technologiesprung nutzte und Handprothesen im digitalen 3D-Druckverfahren herstellte. Auf diese Weise gelang es ihr, das flächige Bild zum Objekt zu erweitern.
Auch der US-Amerikaner Josh Kline (Jahrgang 1979) hat Hände mit Hilfe von 3D-Scans produziert. Seine Hände wirken durch die eingesetzten Silikonfarben aufdringlich lebensecht. Die Finger umklammern jeweils einen Gegenstand, der auf ihren Beruf verweist (Kamera, Mouse). Verstörend wirkt, dass diese Hände von Designern, Kuratoren und Journalisten bestens ausgeleuchtet in Verkaufsregalen liegen. Hier kommt eine politisch-kritische Perspektive ins Spiel. Sie zwingt, uns zu fragen, ob wir unsere Haut zu Markte tragen und ob denn nun alles käuflich sei. Andererseits berührt auf eigentümliche Weise die Realitätsverdopplung. Irgendwann, so scheint es, brauchen wir die Dingwelt und Körperhaftigkeit der ursprünglichen Wirklichkeit nicht mehr.
Yngve Holen (Jahrgang 1982) treibt das von Kline angestoßene Spiel noch etwas weiter: Auf der Basis von 3D-Scans großer Fleischbrocken einer Berliner Metzgerei wurden in Verona Marmorblöcke so gefräst und chemisch bearbeitet, dass sie zu täuschend echten Kopien der Fleischstücke wurden. Der kostbare Marmor verwandelt sich in ein triviales Bild, das eher abstößt als anzieht. Dieses Bild aber lehrt uns, dass nichts vor der Transformation in die zweite Realität sicher ist. Absurd wird die Szenerie dadurch, dass die wie echtes Fleisch wirkenden Marmorblöcke, die in sich, wie es in der Metzgersprache heißt, marmoriert sind, auf Bühnenelementen mit Bodenbelägen für Flugzeuge liegen. So werden die Brocken zu Symbolen für den globalen Handel von Lebensmitteln, für die Gier nach Fleisch und den rücksichtslosen Transport. Holens Installation jedoch stellt dieses zugleich in Frage, weil sie Plexiglaselemente einschließt, an die Schuhe angekettet sind, was wohl heißt: Wir ernähren uns von weltweit transportierten Produkten und kommen doch nicht von der Stelle.
In der Ausstellung überrascht immer wieder, wie vielfältige Bezüge zwischen einzelnen Arbeiten entstehen. Hier geht es um den Kult mit dem reinen Trinkwasser, dort stellt die Frage nach der Wirklichkeit, die angesichts der unzähligen Vervielfältigungen und Kopien zu verschwinden droht. Würden wir am Ende ihren Verlust gar nicht bemerken?
Der Österreicher Oliver Laric (Jahrgang 1981) bringt das Problem auf den Punkt: Der von dem Griechen Polykleitos geschaffene Kopf des Herakles (Herkules) ist verloren gegangen. Wir kennen ihn nur durch die antiken römischen Kopien. Von denen wiederum wurden im 19. Jahrhundert Arbeitskopien hergestellt, die Laric als Vorlagen für seine (übermalten) Kopien dienten. Während beim Fotokopieren das Original allmählich verschwindet, wenn man die Kopien immer weiter kopiert, scheint das Original des Herakles-Kopfes bis zur heutigen Nachbildung durch. Doch Laric zeigt uns auch, wie beliebig alles werden kann. Katalogware statt Kunst: Er bestellte per Mail in Nordkorea eine heldische Männerstatue, die er im Internet entdeckt hatte. Mittlerweile zeigt er dieses anonyme Werk an Stelle der Herakles-Köpfe.
Man kann aber auch mit Hilfe der Kopien aus dem flächigen Landschaftsbild Elemente wie Bäume so herausschneiden und plastisch präsentieren, dass die Räumlichkeit wiedergewonnen wird. Die Estin Katja Novitskova (Jahrgang 1984) versichert uns mit ihren Digitaldrucken auf Aluminium, dass es viele Wege gibt, um in der digitalen Welt die Dreidimensionalität zurückzugewinnen. Auch die Französin Antoine Catala (Jahrgang 1975) führt das vor, wenn frei zugängliche Bilder von Katzen und menschlichen Körpern durch die Hologramm-Technik plastische Gestalt gewinnen.
Zwangsläufig geht der Glaube an die Bilder (wenn er jemals vorhanden war) endgültig verloren. Das spektakuläre Panoramabild vom Hochhausrausch in der Golfregion, das die Künstlergruppe GCC in der Rotunde präsentiert, lässt die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwinden. Das Foto erinnert daran, dass in diesem Teil der Welt das Natürliche längst durch das Künstliche verdrängt ist.
Die Ausstellung gibt sich unterhaltsam, geht aber ins Existenzielle. Während der Amerikaner Ryan Trecartin (Jahrgang 1981) im Video zeigt, wie sich junge Leute in der Show-Welt hoffnungslos verlieren und damit schon in der zweiten Realität angekommen sind, stellt die Schweizerin Pamela Rosenkranz (Jahrgang 1979) die Wirklichkeit auf den Kopf: Dem Kult um das künstlich reine SmartWater stellt sie mit Silikon und Farbpigmenten gefüllte Trinkflaschen gegenüber. Die reine Haut, die durch das SmartWater gewonnen werden soll, steckt so schon auf unangenehme Weise in den Flaschen drin.
Kunstforum Dezember 2013