Die Welt als Theater

Ausstellung Rolf Escher in der Städtischen Galerie „sohle 1“ Bergkamen
Sehr geehrte Damen und Herren!
Es ist sieben Jahre her, dass ich eine Ausstellung, die Rolf Escher in Herne und hier in Bergkamen zeigte, kommentierend begleiten durfte. Damals hatte Escher der Ausstellung den Titel Spuren nach innen – Zeichnerische Suche in Deutschland gegeben. Seine Bilder führten quer durch das Land zu denkmalwürdigen Kirchen, Bibliotheken, Theatern, Industrieanlagen und anonymen Wohnquartieren. Auch dieses Mal handelt es sich um eine Auswahl von Zeichnungen, die Escher von seinen Reisen durch Deutschland, mit Abstechern nach Paris und Venedig, mitgebracht hat.
Daraus ergibt sich unwillkürlich die Frage, inwiefern sich die beiden Ausstellungen unterscheiden. Nun, die Auswahl für die Erinnerungsräume von Berlin bis Venedig ist konzentrierter. Auch sind zahlreiche Neuentdeckungen hinzugekommen, an denen uns Rolf Escher jetzt teilhaben lässt. Insbesondere seine Studien in den Naturkundesammlungen und Wunderkammern ließen einen neuen thematischen Schwerpunkt entstehen. Unübersehbar aber ist, dass die Ausstellung, die wir heute eröffnen, sehr viel farbiger ist als die Bilderschau des Jahres 2007. Schon früher hat Escher zu unterschiedlich gefärbten Papieren gegriffen und hat mit Farbstiften und Aquarellfarben seine Bleistift- und Federzeichnungen akzentuiert. Jetzt aber überwiegen die Blätter, in denen Farbstifte und Aquarellfarben die Kompositionen prägen und die Zeichnungen in die Nachbarschaft zur Malerei rücken.
In einem autobiographischen Beitrag für den zu dieser Ausstellung herausgegebenen Katalog schildert Rolf Escher, wie er bereits vor Beginn seines Kunststudiums für sich das Naturstudium als Quelle zeichnerischer Kunst entdeckte und wie sich daraus eine künstlerische Grundhaltung entwickelte, die bis heute für den Kern seiner Arbeit gültig ist. Viele seiner Stillleben, die seit den 70er Jahren entstanden, wirken seit jeher wie Ausschnitte aus den Kunst- und Wunderkammern, aus denen sich die Museen entwickelten.
Die exakte Naturbeobachtung, das Studium der Käfer, der Libellen, Krebse und Hummer, ist aber nur die eine Seite von Eschers Zeichenkunst. Die andere und für mich entscheidende ist der willkürliche Umgang mit dem Getier.
Vorzüglich studieren lässt sich diese Verlebendigung am Beispiel der Zeichnungen, die Rolf Escher nach dem Studium des Vogelsaals im Naturkundemuseum Bamberg angefertigt hat. Unter den naturkundlichen Sammlungen ist der Bamberger Vogelsaal einmalig, weil er in seiner Struktur immer noch dem Präsentationskonzept entspricht, das vor 200 Jahren entwickelt wurde. Fürstbischof Franz Ludwig von Erthal hatte die Bamberger Universität um eine Professur für Naturgeschichte bereichert und die Einrichtung eines Naturalienkabinetts angeregt, für das jener zweigeschossige Saal geschaffen wurde, der heute die Vogelsammlung beherbergt. Beim Präparieren und Aufstellen der Vögel hatte man sich darum bemüht, die toten Tiere möglichst lebendig zu gestalten, also sie zum Teil mit ausgebreiteten Flügeln auf die Vitrinen zu stellen.
Das war für Rolf Escher ein wunderbarer Anknüpfungspunkt. Denn hatte er nicht in zahlreichen Zeichnungen und Grafiken tote Käfer, Krebse und Hummer zu neuem Leben erweckt und die Räume, in denen sie sich bewegten, zu Bühnen gemacht? Die Welt wird zum Theater, und das Schauspiel beginnt.
Erlauben Sie mir, dass ich mit den Zeichnungen zum Vogelsaal etwas näher beschäftige. Den Auftakt bildet der Saal mit Blick auf die Vitrinen. Wir sehen den zweistöckigen Saal mit der umlaufenden Galerie, schauen auf die Reihe der Vitrinen, in denen die Vögel meist nur schemenhaft zu erkennen sind und bleiben bewundernd rechts an der obeliskenartigen Vitrine mit den Kolibris hängen. Escher vermittelt uns einen atmosphärisch dichten Eindruck von dem Saal, auch wenn er vieles nur knapp angedeutet hat. Das Zentrum aber bilden zwei Raubvögel mit ausgebreiteten Schwingen, die oben auf den Vitrinen so erscheinen, als würden sie gleich losfliegen. Die beiden Vögel, der eine schwarz, der andere braun, gewinnen durch die Farbigkeit Volumen und bringen Bewegung in die Szenerie.
Noch dramatischer wird das, wenn sich der Zeichner für die Nahsicht entscheidet. Ausschnitthaft sieht man in zwei querformatigen Zeichnungen jeweils zwei Großvögel auf Vitrinen, die im Aufbruch beziehungsweise schon in der Bewegung sind. Sie lassen die museale Erstarrung hinter sich und fliegen bald davon. Es sind vor allem die aquarellierten Schattenzonen, die – im Kontrast mit den weißen Vogelkörpern – für Dramatik und Bewegung sorgen. Die Großvögel brechen aus der strengen Ordnung aus, die oben durch das Gitter der Galerie und unten durch die oberste Vitrinenreihe gebildet wird. Zusätzliche Spannung gewinnen die Kompositionen dadurch, dass der Zeichner die kleineren Vögel in den Vitrinen nur knapp umrissen hat. Überhaupt zeigt sich, dass das Skizzenhafte den eigentlichen Reiz der Zeichnungen ausmacht.
Und dann ist da noch der Blick von der Empore. Es handelt sich um ein sehr ruhig angelegtes Bild. In der unteren Hälfte gewinnen wir einen umfassenden Eindruck von der Klarheit und Schönheit des zweistöckigen Vogelsaals. Der Zeichner hat sich Zeit genommen, die Wandgestaltung am Kopfende, das umlaufende Gitter und den im Vordergrund stehenden Tisch mit den beiden Stühlen detailliert auszuführen. Und während die Großvögel in den anderen Bildern skizzenhaft angelegt sind, bezeugt der auf dem Geländer sitzende Pfau das genaue Naturstudium, zu dem sich Escher in seinem Text bekannt hat. Der Pfau auf dem Geländer allerdings ist keine Eschersche Erfindung, sondern Teil der Museumsinszenierung. Dafür hat sich die Zeichner für eine andere Bereicherung entschieden: Unter dem hohen Deckengewölbe lässt er weiße Vögel schweben und fliegen. Zusammen mit der blauen Himmelsfarbe wirkt die Komposition im oberen Teil wie ein Deckengemälde. Die Vögel haben den Raum erobert.
Die Zeichnungen zum Themenkreis des Bamberger Vogelsaals offenbaren, wie unterschiedlich Eschers Arbeitsweisen und wie vielfältig seine Bildlösungen sind. Lassen Sie mich das an ein paar Beispielen erläutern:
Als das aufregendste und gewagtestes Blatt empfinde ich die aquarellierte Tuschezeichnung Gartensaal der Würzburger Residenz. Der Blick des Zeichners widmet sich ganz der Architektur Balthasar Neumanns – den Säulen, den Gewölbebögen und den Fenstern sowie der Veränderung der Architektur durch die Licht- und Schattenzonen. Die Komposition erscheint leicht und skizzenhaft, als eine flüchtige Impression. Das gilt insbesondere für die Decke, für die Johann Zick im Original ein Gemälde geschaffen hat, dessen Farbenfülle hier aber nur zu erahnen ist. Der Zeichner beschwört den offenen Raum und begnügt sich mit ineinander verlaufenden Farbtupfern, um die farbliche Vielfalt und den Figurenreichtum in Erinnerung zu rufen. Und wir geben der Erinnerung Raum und vervollständigen gerne, was der Zeichner nur hingeworfen hat.
Ganz anders die Treppe vor dem Alten Museum im Schnee. Wir blicken auf eine äußerst ruhig gestaltete Platzansicht, die uns einen Begriff von den Proportionen und der Weite vermittelt. Durch die Säulenhalle, die rechts oben das Bild begrenzt, gewinnen wir eine Ahnung von dem klassizistischen Museumsbau, den Karl Friedrich Schinkel konzipierte. Hinten links schließt das Zeughaus den Platz ab. Der Schnee, der zusammen mit dem graublauen Himmel die Komposition dominiert, scheint alles Leben zum Erliegen gebracht zu haben. Für Bewegung allein sorgt das expressive Reiterstandbild des Löwenkämpfers, das fast genau in der Bildmitte angesiedelt ist. Diese Gouache steht völlig im Dienst der Platzidee. Alles Skizzenhafte und Flüchtige ist verbannt. Wir schauen auf eine in sich ruhende Landschaft. Das Bild hat die Offenheit, mit der Escher so gern spielt, aufgegeben.
In dieses Wechselspiel von skizzenhafter Andeutung und geschlossener Ausführung gehört auch ein Bildpaar aus der Welt des Theaters: Da ist die Graphitstudie Residenztheater in München, die ihre Kraft gerade dadurch gewinnt, dass sie links und rechts sowie unten und oben zu den Rändern hin im Ungefähren ausläuft, dass sie die Flüchtigkeit des Eindrucks betont und umso mehr den Blick auf die dynamischen Formen der Logen in dem Rokoko-Theater lenken kann. Die Studie wird zur anschaulichen Erinnerung an eine verschwenderische Architektur. Dagegen steht die Letzte Vorstellung im Hoftheater, eine Zeichnung auf getöntem Grund, in der die Farbstifte eine fast malerische Atmosphäre schaffen. Vor unseren Augen entsteht eine festliche Szenerie. Die üppige Ausstattung zieht uns in ihren Bann. Die festlichen Lampen leuchten, die roten Vorhänge geben den Rahmen, und die Logen werden plötzlich durch ein festliches Publikum belebt. So weicht die Erinnerung der Vergegenwärtigung.
Diese farbige Fassung wirkt genauer und in ihrer Geschlossenheit realistischer. Aber was ist das für eine Realität? Dort, wo eigentlich der Zuschauerraum ist, den der Zeichner in der Graphit-Studie noch durch Stuhlreihen angedeutet hat, entsteht eine Bühne, auf der kostümierte Gestalten stehen, deren Blicke auf uns, die Betrachter, gerichtet sind. Sie machen uns klar, dass das wirklich die letzte Vorstellung ist, denn Figuren mit Totenschädeln haben die Regie übernommen und zum Totentanz einladen.
Fast unmerklich kippt die Szenerie um und wird zur makaberen Groteske. Rolf Escher liebt solche surrealen Wendungen, Zuspitzungen und Maskeraden. In der Theaterszenerie könnte man das Spiel mit dem Tod leicht übersehen. Doch der Zeichner ist fasziniert von diesem zentralen Vergänglichkeitsmotiv. So können wir in dieser Ausstellung einen veritablen Venezianischen Totentanz studieren. Die eleganten Gestalten umtanzen sich in Kostümen einer vergangenen Welt. Hier haben die Lebenden nichts mehr zu sagen und nur noch zu staunen. Die Masken sind gefallen, und der Reigen ist eröffnet.
Ja, der Zauber Venedigs ist ungebrochen. An den Skizzen, Studien und ausgeführten Aquarell-Tuschfeder-Zeichnungen können Sie ablesen, zu welch unterschiedlichen Bildlösungen Rolf Escher findet. Während der Spiegel im Palazzo Zenobio seine Aussage fast verweigert und sich der Graphitstift auf den Rahmen und seinen lebhaften Figurenschmuck konzentriert, scheint sich der Eingang zum Arsenal zu verdoppeln, weil hier der regennasse Steinboden zum wirklichen Spiegel wird, der die Farben des Portals aufsaugt. Noch stärker ausgeführt und noch malerischer wirkt das Nachspiel in Venedig (Café Florian). Wir schauen auf einen Arkadenbogen, der fest von den Säulen und dem Figurenschmuck gerahmt wird und der seinen Reiz durch die fast weiße Sonnenplane gewinnt, die zu zwei Dritteln heruntergelassen ist. Aber die Sonne muss nicht zurückgehalten werden. Eher schützt die Plane die merkwürdige Versammlung, die vor und in dem Café schemenhaft zu sehen ist. Wieder werden wir als Betrachter in die geheimnisvolle Welt entführt, die der Zeichner entdeckt hat. Hingegen licht und offen, fast überblendet ist der Raum im Café Florian am Morgen. Die Massivität der Architektur ist vergessen, ebenso die Dunkelheit und die geschlossene Form. Die Zeichnung konzentriert sich auf die tragenden Elemente und verliert sich zu den Rändern hin. Die geheimnisvolle Versammlung des anderen Florian-Bildes hat sich aufgelöst. Nur ein früher Gast war da. Er hat vorne auf dem Tisch eine Kaffeetasse, ein Wasserglas und eine Karaffe zurückgelassen. Übrigens ein beliebtes Motiv aus früheren Jahren
Es macht Freude, dieses Wechselspiel der Bildzustände und Bildformen zu verfolgen. Wer sich darauf einlässt, kommt dem Wesen von Eschers Zeichenkunst noch näher.

28. 2. 2014

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