Die Künstlernekropole

Künstler-Nekropole

Ein nebliger Wintertag. Nur für Bruchteile von Sekunden gelingt es der Sonne, ihre Strahlen fächerartig in den Buchenwald zu schicken und die dunklen Stämme noch plastischer erscheinen zu lassen. Bilder von Caspar David Friedrich stellen sich ein, denn dieses Areal mit seinen überraschenden Höhen und Senken, das den Blauen See im Habichtswald umgibt, hat sich eine kraftvolle Urwüchsigkeit bewahrt.

Es ist ein Tag im Februar 1989. Vier dunkle Gestalten ziehen durch den Wald. Im langen schwarzen Mantel die Künstlerin Rune Mields (Jahrgang 1935, documenta 6), einen schwarzen Schal zum Schutz vor der feuchten Kälte um den Kopf gelegt, im schwarzen Lederanzug der Künstler Harry Kramer (1925 – 1997), schwarz gekleidet auch Kramers Assistent Michael Willhardt und der sie begleitende Journalist. Sie könnten einem Trauerzug angehören. Aber sie tragen niemanden zu Grabe. Nein, sie haben keinen Toten zu beklagen. Doch sie haben sehr wohl den Tod vor Augen. Denn endlich soll, nach fast zehnjährigem Ringen, eine Idee Wirklichkeit werden, die Kramer mit mittlerweile missionarischem Eifer verfolgt: Er will rund um den Blauen See einen Künstlerfriedhof anlegen, eine Künstler-Nekropole, einen Skulpturenpark, der dem Tod gewidmet sein soll.

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Die Kölner Künstlerin Rune Mields soll den Anfang machen. Bereits sieben Jahre zuvor, 1982, hatte Kramer sie für seine Idee gewinnen können. Rune Mields hatte die Einladung als Herausforderung verstanden. Begräbnismonumente, so bekannte sie, hätten sie schon immer fasziniert. Doch den eigenen Tod zu bedenken und dafür ein Grabmal zu entwerfen, lag ihr anfangs mehr als fern. Umso besessener ging sie nun zu Werke. Im Laufe der nächsten Wochen und Monate entstanden rund 800 Zeichnungen.

Rune Mields ist eine Zeichnerin und Malerin, die die Geheimnisse des Lebens mit konzeptuellen Mitteln zu erschließen versucht. Mit ungeheurer Energie spürte sie Zahlen-, Sprach- und Bildsymbole aus den unterschiedlichsten Kulturen auf, um sie zu analysieren und sinnlich erfahrbar zu machen. Mit besonderer Hingabe setzte sie sich mit den Primzahlen auseinander, mit den Zahlen also, die nur durch 1 und sich selbst teilbar sind. Aus der Beschäftigung mit den Primzahlen entwickelte sie auch ihren Beitrag für die Künstler-Nekropole, der, da er als erster realisiert wurde, Maßstäbe setzte. Sie schuf kein in die Höhe ragendes Zeichen, sondern ging mit ihrem Todesmonument in die Fläche. Sie entwarf ein mäanderndes Band aus weißen und schwarzen Marmorquadern, insgesamt 97 Steine (97 ist die letzte Primzahl unter 100) und jeder 50 x 50 x 50 cm groß. Die schwarzen Steine, in die jeweils ein Buchstabe graviert und mit Blattgold ausgelegt ist, markieren die Primzahlen. Und immer dort, wo ein schwarzer Stein liegt, erfolgt ein Knick im rechten Winkel. So entstand eine flächige Figur, wie sie sich beim Domino ergeben kann. Und die beim ersten Stein beginnende Buchstabenfolge ergibt das Seneca-Zitat aus Monteverdis „Poppea“-Oper: „La vita corre comme rivo fluente“ (Das Leben läuft wie ein fließender Fluss), das nun auch der Titel der Arbeit ist. Das Band aus Steinen symbolisiert auf eindringliche Weise das langsame und stete Fließen – von der Quelle (Geburt) bis zur Mündung (Tod). Und die Steinfolge macht unübersehbar, dass dieser Fluss nie geradlinig verläuft. Immerhin sind 26 der 97 Zahlen nicht durch andere Zahlen als eins teilbar. Das heißt: 24mal knickt das Band rechtwinklig ab und wirkt wie eine gestreckte Spirale.

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Als die kleine Gruppe im Februar 1989 das Gelände begutachtete, war der Platz für Rune Mields längst verabredet. Doch der Platz war nicht leicht wieder zu finden, weil er abseits der Wege, am Rande einer Waldwiese liegt. Es ist kaum vorstellbar, dass dieses ehemalige Bergbaugebiet, in dem 1923 der Blaue See durch Wassereinbruch entstand, zeitweise ein beliebtes Ausflugsziel gewesen war. Der Blaue See lockte in den späten 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts im Sommer so viele Badegäste an, dass der Kyffhäuserbund eine Baracke erbaute, in der es Erfrischungsgetränke gab und Familien Kaffee kochen konnten. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg zogen die Kasseler im Sommer gern zum Blauen See hinaus. Ein Badesteg wurde angelegt, und ein Bademeister sorgte für Aufsicht und richtete eine kleine Bewirtschaftung ein. Nichts davon ist geblieben. Der Wald wirkt so, als wäre er seit Jahrzehnten sich selbst überlassen worden.

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Kein Wunder, dass unter Landschaftsschützern ein Aufschrei losbrach, als in der Zeitung ein Bericht über die geplante Künstler-Nekropole erschien. Sie sahen ganze Busladungen durch das Gelände am Blauen See trampeln und die Ruhe schwinden. Weil Harry Kramer angekündigt hatte, dass vornehmlich documenta-Künstler eingeladen werden sollten, künstlerische Grabmonumente für sich zu Lebzeiten zu gestalten, projizierten die Kritiker der Idee die Besucherschlangen der documenta in den Wald. Noch empörter allerdings waren viele Leser darüber, dass sich da die Künstler ein Sonderrecht herausnehmen wollten. Während alle anderen Bürger bei der Bestattung von Angehörigen strengste Regeln beachten mussten, wollten sich anscheinend die Künstler nicht an die Regeln halten und sich – „ob man bedeutend ist oder nicht“, wie es in einem Leserbrief stand – selbst ein Denkmal setzen: „Ist es nicht unverschämt allen anderen Bürgern gegenüber, sich selbst in exponierter Landschaft ein Monument zu errichten?“

Man wolle im öffentlichen Wald keine private Totenstadt, hieß es. Das Regierungspräsidium als Genehmigungsbehörde wollte die Argumente nicht wegwischen. Und als die Gegner der Nekropole gar den Petitionsausschuss des hessischen Landtags einschalteten, schienen die Aussichten zur Umsetzung des Künstlerfriedhofs zu schwinden. Es bedurfte langer Verhandlungen, bis endlich im August 1992 das Land den Gestattungsvertrag genehmigte.

Durch die Erinnerung an diese Auseinandersetzung wird deutlich, wie radikal sich unser Verständnis der Begräbniskultur geändert hat. Während bis Ende des 20. Jahrhunderts der Wunsch unvorstellbar schien, Bestattungen außerhalb der öffentlichen Friedhöfe vorzunehmen, sind wir in den vergangenen Jahren von der Friedwald-Bewegung überrollt worden. Nahezu überall ist es möglich geworden, in Waldgebieten oder Parkanlagen von Friedhöfen Urnen beizusetzen. Dabei ist der Grundgedanke, wie er auch im Reinhardswald , nahe der Sababurg praktiziert wird, die Urnen im Schatten von Bäumen in die Erde zu lassen. Durch diese Entwicklung ist ein wesentlicher Teil des früheren Streits um die Künstler-Nekropole substanzlos geworden.

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Harry Kramer hat diesen gesellschaftlichen Sinneswandel nicht mehr erlebt. Doch der Plan, Begräbnisstätten außerhalb der Friedhöfe zu suchen, hatte für ihn nichts Umstürzlerisches. Denn lange Zeit hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich einmal im Garten seines Hauses in Frankreich beisetzen zu lassen. Dort wäre das möglich gewesen. Dass er sich schon weit vor seinem Ende mit dem Tod und der Frage des Überlebens beschäftigte, hatte mit der Radikalität seines Denkens zu tun gehabt. „Kunstproduktion ist sicher eine Form der Todesbewältigung“ , schrieb Harry Kramer 1981 in einem Brief, in dem er seine Vorstellungen von einem Künstlerfriedhof ausbreitete. Er tat es unsicher, voller Zweifel, ahnend, dass er bei einigen auf Unverständnis stoßen wird: „Es ist zu befürchten, dass ich, zwischen allen Stühlen sitzend, Prügel beziehe. Inzwischen ist mir das gleichgültig.“

Aber es sind nicht nur das Sterben und der Tod, die Kramer herausforderten, an einer Totenstadt für Künstler zu arbeiten. Noch mehr trieb ihn das Leiden an, das in ihm die Versuche erzeugten, die Städte mit Kunst zu verschönern. Die Großplastik hatte im städtischen Raum ihren Ort weitgehend verloren. Kramer jedoch hoffte, durch die Verknüpfung mit dem Totengedenken der Außenplastik wieder zu einer Funktion und Form zu verhelfen. Zuversichtlich schrieb er: „Der Künstler kann nur beim eigenen Grabmal sich selbst Auftraggeber und Mäzen sein […] Ein Park der Künstlergrabmäler informiert in seiner Kontinuität über Wechsel und Wandel der Auffassungen authentischer als Museen und Sammlungen[…].“

Die Vorbilder der Renaissance-Künstler wie Raffael und Michelangelo hatte Kramer vor Augen. Aber er hatte mehr im Sinn. Er wollte auf den Spuren der Parkgestalter des 18. und 19. Jahrhunderts wandeln, die den Park als geformte Natur, als geistige Landschaft begriffen. Die Landschaftsarchitekten hatten im Bergpark Wilhelmshöhe nicht nur Wasserspiele und Wegesysteme geschaffen, sondern auch altertümlich wirkende Ruinen und Scheingräber. Die Cestius-Pyramide und das Grab des Virgil luden in Wilhelmshöhe gerade dazu ein, Todesmonumente der Gegenwart zu erbauen. Zwar verbot sich Kramers Projekt im Bergpark, doch das Areal am Blauen See befindet sich in der unmittelbaren Nachbarschaft.

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Mit dem dritten Grabmonument erhielt die Künstler-Nekropole im Jahre 1993 ein sichtbares Zeichen, eine Landmarke, die nicht nur den Einstieg in den Rundweg erkennbar macht, sondern auch ein Symbol für die allmählich wachsende Totenstadt ist. Diese Skulptur steht am unmittelbarsten in der Tradition der Bestattungskultur. Zusammen mit Harry Kramer hatte Fritz Schwegler (Jahrgang 1935, documenta 5 und 8) eine Anhöhe oberhalb des Steilufers vom Blauen See ausgewählt, auf die er einen barock wirkenden Sarkophag setzen ließ, der an die fürstlichen Grabgelege in den großen Domen erinnert.

„Einen Platz im Habichtswald, unter Buchen, oberhalb von einem Blauen See haben wir uns ausgewählt, […] Es war nicht eigentlich meine Idee, hier oben in Kassel für immer zu ruhen, aber dieser Ort ist so gut in der Mitte von Deutschland und von Europa und sicherlich auch der ganzen Erde, Welt. Und worum wäre es mir je im Leben mehr gegangen, als einmal ganz und gar in der Mitte, da es entspringt – zu sein?“ Fritz Schwegler, der Zeichner und Maler, Objektbauer und Poet, der uns in surreale Welten entführt, nimmt den Vorwurf auf, die Künstler wollten sich selbst in die Ewigkeit erheben, und bekennt sich unverhohlen zu ihm.

Schweglers Sarkophag aus einem italienischen Lava-Basalt (2 m x 1,40 m x 2 m) orientiert sich an klassischen Proportionen, irritiert gleichwohl, weil durch eine Wulst auf der einen Seite des Unterbaus der Deckel aus der Mitte verschoben ist und dennoch plan abschließt. Aber nicht nur dieses Verwirrspiel mit der Form verunsichert die Betrachter. Noch stärker weckt die eingemeißelte Inschrift Zweifel und Fragen: „LEBENSMÜDE? – ABULVENZ!“ sowie „EN 6355“ steht auf der einen Seite. Und auf der anderen: „WEISZT DU, WEIL ICH HIER BIN UND DU BIST AUCH HIER“ sowie „EN 4626“.

Wer Schweglers Werk kennt, weiß, dass einerseits solcherart altertümlich wirkende und verrätselnde Sprechweise zu ihm gehört und andererseits ein strenges Ordnungssystem („EN 6355“) für seine Werke. Immerhin scheint die eine Botschaft relativ leicht entschlüsselbar zu sein: Weil er, der Künstler, hier ist, sind wir auch hier. Oder? Aber ratlos macht die andere Inschrift. Ist man denn lebensmüde, nur weil man an Schweglers Sarkophag steht? Schweglers Wortspiel ist allerdings älter als sein Kasseler Monument. Beispielsweise war es der Titel eines Plakatgedichts. Das Wort Abulvenz, das zwischen seinem ersten (A) und letzten Buchstaben (Z) das ganze Alphabet einschließt und das in zahlreichen früheren Arbeiten schon auftaucht, ergibt keinen konkreten Sinn und ist dennoch als ermunternder Ausruf (!) und als ein Mittel gegen Lebensmüdigkeit zu verstehen. Man hat das Ende vor Augen und steht trotzdem im Leben.

„Weil ich hier bin…“ stimmt im Moment nicht ganz. Denn Schwegler ist noch am Leben – wie die Schöpfer der anderen sechs Monumente auch. Sie alle wollten und mussten zu Lebzeiten sich die Form ihres Grabzeichens und den Ort ihrer Bestattung aussuchen. Die Monumente eilen ihren Schöpfern voraus. Und eben dies, dass die eingeladenen Künstler sich Jahre und Jahrzehnte vor ihrem Tod auf die Urnen-Bestattung am Blauen See festlegen mussten, führte dazu, dass einige der Geladenen aus familiären oder partnerschaftlichen Gründen trotz Zusage doch nicht mitmachten. So zogen Erwin Heerich und Jochen Gerz ihre Zusagen zurück, ebenso Franz Erhard Walther und Georg Ettl.

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Schweglers Monument erreichen die Spaziergänger, wenn sie, vom Parkplatz „Bergfreiheit“ am Ende der Ahnatalstraße kommend, dem auf der Übersichtstafel markierten Weg 1 folgen und schließlich das Wohnhaus im Wald rechts liegen gelassen haben. Allerdings dürfen sie nicht gleich am breiten Weg nach rechts abbiegen, sondern müssen den Wanderweg verlassen und halblinks die Anhöhe erklimmen, um den Sarkophag und damit den Rundblick über den Blauen See zu erreichen. Ein geheimnisvoller, fast verwunschener Ort. Natur und Kunst, Ursprünglichkeit und strenge Form, Leben und Tod werden hier verwoben. „… und du bist auch hier“.

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Man muss wieder zurück, die Anhöhe hinunter, um nun, nach links, dem Wanderweg 1 weiter zu folgen. Nach der fast klassischen geschlossenen Form gelangen wir nun zu einer offenen und weitläufigen Anlage, halb Theater, halb Tempelstätte, dann aber wieder auch wie ein Rast- oder Spielplatz.

In der Mitte ein in den Boden gelassenes quadratisches Becken (4 x 4 m), ein kleines Theater. Zwei Betonstufen führen hinunter und laden bei schönem Wetter zum Sitzen ein. Im Zentrum des Beckens ein flacher Kubus wie ein Opferstein – oder, wie der Schöpfer sagt, ein versenkter Tisch. Von jeder der Ecken der in den Boden gelassenen Form geht ein Plattenpfad zu jeweils zwei hölzernen, 3,50 m hohen Doppelpfeilern, die oben mit einem Metallband ummantelt sind und die wie Portale oder Wächterfiguren wirken. Auf der Innenseite trägt jeweils einer der Pfeiler eine plastische Form (geformt von Jochen Leyendecker), die an eine aus der Form geratene Totenmaske erinnert.

„Spielraum“ heißt diese Arbeit aus Holz, Beton und Zinkblech, die sich über eine Fläche von rund 15 x 15 m ausdehnt. Werner Ruhnau (Jahrgang 1922) hat sie geschaffen. Man sieht ihr an, dass ihr Schöpfer kein Künstler im klassischen Sinne ist, sondern ein Architekt, der mit dem weiten Raum umzugehen versteht. Seine Arbeit bezieht sich auf die Antike mit ihren Plätzen für Aufführungen und Feste, mit ihren Säulen und mit ihren Totenstädten. Dementsprechend verbindet Ruhnau mit der Verwirklichung dieser Arbeit die Vorstellung, dass die Beisetzungszeremonie im Sinne eines antiken Theaterspiels inszeniert wird, aber auch, dass man dort ein Picknick arrangieren kann.

Ruhnau war der erste, der weder documenta-Teilnehmer noch Künstler war, der die Einladung zur Mitarbeit an der Nekropole erhielt. Sein bekanntestes Projekt ist das 1959 vollendete Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen, für dessen Ausgestaltung er die Künstler Yves Klein, Norbert Kricke und Jean Tinguely gewinnen konnte. Ebenfalls Aufsehen erregte seine Spielstraße, die er 1972 zu den Olympischen Spielen in München gestaltete.

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Schon bald, nachdem man auf den Wanderweg 1 zurückgekehrt ist, wird auf der rechten Seite die nächste Skulptur sichtbar: Heinrich Brummacks (Jahrgang 1936, documenta 8) „Vogeltränke“ – eine große runde, rötliche und zur Mitte vertiefte Brunnenschale auf der Basis eine Achtecks. In der Schale soll sich das Regenwasser sammeln, die Bäume sollen sich in der Wasserschale spiegeln, und die Vögel sollen sich hier zur Tränke sammeln. Die Worte „Wasser ist Leben“ sollen in mehrfacher Form zum Motto dieser Skulptur werden. Und Brummack selbst sieht darin ein trostreiches Zeichen, dass der Ort seiner Bestattung für die Tiere zum Lebensquell werden kann.

Die Granitschale (Durchmesser 2,70 m), die man nach Brummack auch als Altartisch ansehen kann, ruht auf zwei 90 cm hohen Sarkophagen, in denen die Asche die Künstlers und – symbolisch – die seiner Kunstfreunde beigesetzt werden kann. Auf den dicht nebeneinander stehenden Grabkammern liegt die Granitschale scheinbar so leicht auf, dass sie zu schweben scheint.

Brummacks Humor entfaltet sich hier nur verhalten. Vielleicht gefallen Brummacks Skulpturen deshalb auf Anhieb, weil sie bei aller Feierlichkeit immer etwas Nützliches enthalten. Hier ist es die Vogeltränke, die dazu beiträgt, dass ein heiter-gelassener Ort der Erinnerung entsteht. Im Kasseler Stadtteil Wehlheiden schuf Brummack für den Platz am Kirchweg, auf dem Wochenmarkt gehalten wird, ein Symbol für das Markttreiben: Während weithin zwei goldene Birnen auf Säulen grüßen, steht davor ein kräftig sprudelnder Brunnen. Ebenso heiter stimmt, dass das Brunnenwasser aus einem großen roten Topf heraussprudelt. Er scheint überzukochen. Aber nicht nur das: Im Winter, wenn Frost droht, wird der Topf mit einem passenden Deckel verschlossen.

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Von der „Vogeltränke“ sind es nur ein paar Schritte zur nächsten Arbeit – direkt oberhalb des Steilhangs am Ufer des Blauen Sees. Dieser Beitrag zur ist so klein und unscheinbar, dass man zögert, von einem Monument zu sprechen, denn es nimmt gerade mal die Fläche eines einzelnen Urnengrabes ein (52 x 52 cm). Der Totalkünstler Timm Ulrichs (Jahrgang 1940, documenta 6) hat dieses groteske Werk geschaffen, das so typisch für seine Art ist, die Dinge beim Wort zu nehmen und gleichzeitig auf den Kopf zu stellen.

Timm Ulrichs war es, der zu einer Zeit, als die anderen beteiligten Künstler überhaupt noch keine Gedanken an ihren eigenen Tod und die Form ihres Grabmals verschwendet hatten, längst eine erste absurde Form gestaltet hatte: Das Titelbild eines Kataloges von 1975 schmückte ein Friedhofsfoto, auf dem ein schlichter Grabstein mit folgender Inschrift zu sehen war: „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen! – Timm Ulrichs 31.3. 03.1940“ Der aus dem Jahre 1969 stammende Grabstein, zu dem es auch eine kleinere Marmor-Fassung in Buchform gibt, die 1977 in der documenta 6 zu sehen war, zeigte die Pole auf, zwischen denen sich das Gedenken an die Toten bewegt. Ulrichs lockt in eine Wort- und Gedankenfalle hinein, aus der man sich nur schmunzelnd befreien kann.

Fünf Jahre später dokumentierte Ulrichs in einem Katalogbeitrag, dass der Grabstein nicht nur Produkt eines spielerischen Einfalls war, sondern das Ergebnis einer radikalen und konsequenten Auseinandersetzung mit den Formen des Trauerns und Gedenkens: „Mein eigener Gedenkraum (1967 – 69) im Kunstverein Hannover (8.-12.8. 08.1969) war der Versuch, mit der angeblichen Heiterkeit der Kunst über den Ernst des Lebens und den Todernst des Todes mich hinwegzusetzen und den Ernstfall und meine Überlebenschancen mittels Kunst zu proben. Der Fußboden des Ausstellungsraumes war von einem Friedhofsgärtner sach- und fachgerecht mit Blumen, Gras und Kies bedeckt worden […].“

Der in Hannover lebende Künstler hatte also die Fragen des Ehrens und Gedenkens längst durchgespielt, als ihn Harry Kramers Anfrage erreichte. Neben dem Grabstein hatte er nämlich auch eine Form entwickelt, die dem herkömmlichen Denkmal eine Absage erteilt. Seit 1980 hatte er wiederholt einen Abguss seines Körpers herstellen lassen und die so gewonnene Hohlform kopfüber in den Boden versenkt. „Auf der Unterseite der Erdoberfläche“ heißt denn auch die 1992 für Kassel entstandene Arbeit. Durch die quadratische Panzerglasscheibe sieht man nur die Füße der Bronze-Gestalt.

Das Monument von Ulrichs stellt die Denkmal-Praxis auf den Kopf. Hier wird nicht länger zu Ehren eines Menschen ein Denkmal errichtet, das dessen Figur sichtbar macht. Es wird vielmehr umgedreht: Die untere Seite der Erdoberfläche ist mithin der Sockel, auf dem die Skulptur steht bzw. an dem sie hängt.

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Dem fast unsichtbaren Monument folgt etwas abseits vom Weg 1 ein hoch aufragendes Zeichen – ein 1,56 m hoher Pfeiler, auf dem ein stilisiertes Auge (80 cm hoch, 180 cm breit) ruht, alles in einem Stück in Beton gegossen. Karl Oskar Blase (Jahrgang 1925, documenta 3 und 8), Gestalter, Künstler und als Hochschullehrer Weggefährte Kramers, hat dieses Symbol für das Sichtbare und für den Augenmenschen entworfen. Zur einen Seite ist die Pupille nach außen gewölbt, zur anderen nach innen. Das ist für Blase programmatisch, denn in dem Wechsel von positiv und negativ (oder: konvex – konkav) sieht er ein Sinnbild für gegensätzliche Sichtweisen. Blases „Auge“ überblickt das Gelände und weist den Weg. Vielleicht drückt sich darin die Hoffnung aus, auch nach dem Tod den Überblick zu erhalten.

Blase ist kein Bildhauer. Er ist in erster Linie ein aus der Bauhaus-Schule kommender Designer, ein erfolgreicher Gestalter von Signets für die documenta, von Plakaten und Briefmarken und dazu ein Zeichner und Maler. Seine Biografie ist untrennbar mit der Geschichte der documenta verknüpft.

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Zu jedem Regelwerk gehört die Ausnahme. Das gilt auch für die Künstler-Nekropole. Denn wenn man, von dem „Auge“ kommend, dem Weg 1 weiter folgt, erreicht man als nächste Station einen Beitrag, der alles andere als eine Skulptur oder ein Monument ist: Hoch an einem Baumstamm ist mit Metallbändern ein verglaster Eisenrahmen befestigt, der ein Ölbild trägt. „Abend – Treffen an der Lichtung – Harrys Abschied“ heißt das Bild, das der schwerkranke Künstler Blalla W. Hallmann (1941-1997) unter dem Eindruck der Nachricht von Harry Kramers Tod 1997 malte. Zwei Wochen später starb er selbst.

Hallmann hatte zwar zuletzt eine Professur in Braunschweig, doch er war ein Außenseiter in der Kunstszene. Dass er sich mit seiner Malerei zwischen Naivität und Surrealismus bewegte, ist auch an dem Gemälde ablesbar, das vor einem orange-roten Abendhimmel düstere Gestalten, eine Art Kreuz und Totenköpfe zeigt. Das Bild ist eine doppelte Gedenktafel – einmal für den Nekropolen-Gründer Harry Kramer, der sich hier kein eigenes Monument setzen wollte, aber in dem Wald am Blauen See anonym bestattet wurde, und zum anderen für Hallmann, der nicht mehr dazu kam, sein Grabmal zu gestalten.

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Dort, wo das Bild hängt, verzweigt sich der Weg, und man muss sich rechts halten, um zu der großen Waldwiese zu gelangen, auf der Rune Mields ihr bandartiges Monument ausgelegt hat und auf der die acht 2 m hohen und 1,5 m breiten rostenden Stahlplatten stehen, die Ugo Dossi (Jahrgang 1943, documenta 6 und 8) so als zwei ineinander gestellte offene Quadrate platziert hat, dass sie zusammen ein Oktogon ergeben. „Denkort“ hat Dossi seine Arbeit genannt. Sie kann man erst richtig wahrnehmen und erfahren, wenn man in das Zentrum der Quadrate eintritt.

Dossi ist ein Künstler, der die Grenzen der Wahrnehmung erforscht und der dem schwer Greifbaren Gestalt gibt. Seine Nekropolen-Arbeit lebt aus der Spannung zwischen Offenheit, Formstrenge und bildlicher Beschwörung dessen, was nicht bildbar ist. In die Stahlplatten hat er jeweils eine Zeichnung mit dem Laser schneiden lassen. Außen sind vier Ansichten der Seele zu sehen, innen die vier Bilder des Todes. Es sind geheimnisvolle Stahl-Zeichnungen, die im Wortsinne Lichtbilder sind. Erst wenn man im Innern der Arbeit steht, erkennt man die ganze Kraft der Lichtzeichnungen.

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Auf 40 Künstlergräber ist laut Vertrag die Nekropole ausgelegt. Die Monumente sollen höchstens in 30 Meter Entfernung von dem 2,4 Kilometer langen Rundweg stehen . Ursprünglich war daran gedacht, die Nekropole jährlich um ein Werk zu erweitern. Nach dem Tod Harry Kramers geriet das Projekt immer wieder ins Stocken. Jüngster Beitrag ist Ugo Dossis „Denkort“ von 2003. Das nächste Monument, so der Beschluss von 2008, soll der Kramer-Schüler Gunter Demnig errichten. Für Ausbau, Erhalt und Finanzierung der Anlage ist die Künstler-Nekropole-Stiftung zuständig, in die Kunstwerke von Harry Kramer sowie 300.000 DM (rund 150 000 Euro) eingebracht wurden. Dem Stiftungsrat gehört seit Anbeginn Manfred Schneckenburger, Leiter der documenta 6 und 8, an. Harry Kramer ist bisher der einzige Künstler, der (allerdings anonym) in der Nekropole bestattet wurde.

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