Amsterdam, Philadelphia, Gent, Wien, Barcelona, Kabul und Athen

Mit seiner Entscheidung, Athen neben Kassel 2017 zum zweiten documenta-Standort zu machen, hat Adam Szymczyk für so viel Wirbel gesorgt, wie wir ihn seit der Berufung von Catherine David (documenta X) im Vorfeld der Kasseler Ausstellung nicht mehr erlebt haben. Zwei Aspekte haben vornehmlich für Aufregung gesorgt. Zum einen, dass Szymczyk sagte, dass die Ausstellungen in Kassel und Athen gleichberechtigt sein sollte. Daraus schlossen etliche Zeitgenossen, die Ausstellung solle halbiert werden – wovon aber keine Rede sein kann. Und zum zweiten, dass der Athener documenta-Teil zwei Monate vor der Kasseler Ausstellung, im April, eröffnet werden soll. Die unsinnige Befürchtung in der documenta-Stadt ist, dass alle Welt im April 2017 in Athen eine Ausstellung namens documenta feiert und dass dann, wenn es in Kassel losgeht, die internationale Welt nicht mehr hinschaut und die Besucher und Hotelgäste in Kassel ausbleiben. Man muss diese Befürchtungen ernst nehmen, vor allem auch deshalb, zumal die documenta erst in den 90er Jahren richtig angekommen ist und weil die Stadt zur Finanzierung rund zehn Prozent beiträgt.

Doch bevor die Befürchtungen, Ängste, Kritiken und Zustimmungen bedacht und gewogen werden, sollte man einen Blick in die documenta-Geschichte geworfen werden,um zu prüfen, wie sich das Verhältnis Kassel und documenta entwickelt hat.

Das Kasseler Kind

Die documenta als ein Begleitprogramm zur Bundesgartenschau 1955 ist ein ureigenes Kasseler Kind. Dabei ist die Tatsache, dass die Ausstellung 1955 zustande kam und dann im Vier- bzw. Fünf-Jahresabstand weitere Ausstellungen folgten, ist Arnold Bode zu verdanken. Er war der Ausstellungsmotor und Ausstellungsleiter unangefochten bis 1968.

Amsterdam

Unmittelbar nach der documenta 1955 ging Bode an die Planung der II. documenta. Zeitweise schlug er vor, die documenta im (wieder aufzubauenden) Schloss Wilhelmshöhe zu präsentieren. Daraus wurde schon deshalb nichts, weil der Wiederaufbau bis 1959 nicht machbar war. Überhaupt konnte Bode sich sein Kind documenta an vielen Orten vorstellen. Als im Sommer 1958 die Planungen ins Stocken gerieten, schrieb Bode an den Kasseler Oberbürgermeister Lauritzen: Sollte sich die Stadt Kassel für die Ausstellung nicht interessieren, wird sie die Stadt Amsterdam übernehmen. Er selbst sei schon um die Mitarbeit gebeten worden. Damit war ein Alternativstandort (als Drohung) ins Spiel gebracht worden.

Ohne Kasseler Organisatoren

Bodes Zielstrebigkeit hatte dazu beigetragen, dass aus der documenta eine Institution wurde. Allerdings erfolgte bei der Vorbereitung der documenta 5 ein Bruch. Von nun an lief die Planung der documenta ohne Kasseler Beteiligung. Zwar war auch unter Bode das Team internationalisiert worden, aber jetzt wurden die documenta-Veranstaltungen von außen gesteuert: Harald Szeemann (1972) kam aus der Schweiz, Manfred Schneckenburger und seine engsten Mitarbeiter (1977 und 1987) kamen vornehmlich aus dem Kölner Raum, Rudi Fuchs (1982) war Niederländer, Jan Hoet (1992) Belgier, Catherine David (1997) war Französin, Okwui Enwezor war Afro-Amerikaner, Roger Buergel (2007) war wieder einmal ein Deutscher, Carolyn Christov-Bakargiev (2012) war Italo-Amerikanerin und Adam Szymczyk (2017) ist Pole.

Philadelphia

Seit Bodes Drohung mit Amsterdam entstanden regelmäßig in Kassel Ängste, die documenta könnte abwandern. Jedes Mal, wenn Köln oder Düsseldorf Großausstellungen auf den Weg brachten, wurde in Kassel besorgt gefragt, ob nun dort die Weltkunstschau zu sehen sei. Doch die rheinischen Bemühungen brachten bisher nur Einmal-Veranstaltungen hervor. 1974 bis 1976 aber wurde erstmals ein zweiter documenta-Standort diskutiert. Über mehrere Monate wurde die Idee diskutiert, die documenta 6 nach ihrem Ablauf in Kassel einzupacken und nach Philadelphia als deutschen Beitrag zu den amerikanischen Unabhängigkeitsfeiern zu schicken. Bode erhoffte sich dadurch mehr Ruhm für die documenta und weniger Kosten (den Transport sollte der Bund finanzieren). Die Planungen zerschlugen sich – nicht zuletzt auch deshalb, weil die Feiern in Philadelphia 1976 stattfinden sollten, die für das selbe Jahr geplante documenta aber wegen programmatischer Streitigkeiten auf 1977 verschoben werden musste.

Gent

Einen Aufschrei der Kasseler Kunstfreunde gab es im Frühjahr 1990, als Jan Hoet zu einem Gesprächsmarathon einlud. Er wollte einen Einblick in seine Werkstatt (Hunderte von Dias) bieten und seine Mitarbeiter vorstellen.
Was aber viele Kunstfreunde in Kassel empörte, war die Tatsache, dass der Marathon von Hoet als ein Heimspiel in seinem Genter Museum geplant war. Kassel sei doch documenta-Stadt, also müsse auch alles zur documenta hier stattfinden, hieß es.

Hoet ließ sich nicht beirren und schloss ein zweites Gesprächsgastspiel in Weimar an.

Die DOCUMENTA IX litt nicht darunter. Sie trug viélmehr entschieden zur Popularisierung der documenta bei.

Wien

Der Ausflug der Kunstjünger nach Gent war ein Katzensprung im Vergleich zu den Reisen rund um die Welt, zu denen Okwui Enwezor ab März 2001 einlud. Der Ausstellung im Sommer 2002 hatte Enwezor Diskussionsplattformen vorgeschaltet, in denen über die geistigen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen diskutiert werden sollte. Die Auftaktveranstaltung in Wien verstand Enwezor als offiziellen Start der documenta.
Von Wien aus ging die Reise weiter nach Berlin, Neu-Delhi, Santa Lucia und Lagos, um dann in Kassel u enden.

Die vorgezogene Eröffnung in Wien wurde allerdings von der Öffentlichkeit nicht registriert.

Barcelona

Eine erste Verlagerung eines Ausstellungsteils gab es zur documenta 12, zu der der Spitzenkoch Ferran Adria eingeladen war. Adria aber kochte nicht in Kassel. Vielmehr wurde Adrias Restaurant in der Nähe von Barcelona zu einer Außenstelle der documenta ernannt worden. Dort wurde an jedem Tag ein Tisch für documenta-Besucher reserviert.
Die Exklusivität war damit zur Voraussetzung für einen documenta-Beitrag geworden.

Kabul

Carolyn Christov-Bakargiev verwurzelte sich frühzeitig in Kassel, indem sie zwei Jahre vor dem Start der Ausstellung mit Giuseppe Penone dessen Skulptur „Idee di pietra“ in der Karlsaue aufstellen ließ. Gleichzeitig reiste sie mehrfach rund um die Welt, um zu entdecken, dass ihr Generalthema „Collapse and Recovery“ überall mit Kassel zu verbinden war. Insbesondere durch Boetti, Garcia Torres und Francis Alys blickte sie nach Kabul. Die afghanische Hauptstadt wurde neben Kassel zum zweiten Zentrum ihres Denkens.
Am Ende entschied sie sich, für Kabul einen eigenständigen Ausstellungsteil entwickeln zu lassen, die die Kasseler Schau ergänzte und kommentierte. Vieles von dem, was in Kabul zu sehen war, wirkte wie die andere Seite der Medaille.
Umgekehrt war in Kassel eine Kabuler Ausstellung zu sehen, in der es weniger um die künstlerische Qualität ging, sondern mehr um die Frage, was denn nun die dortigen Künstler beschäftige. Daneben gab es noch kleine Beiträge in Alexandria/Kairo und Banff.
Die documenta hatte damit eine neue Dimension erreicht – was in der Öffentlichkeit nur wenig diskutiert wurde.

Athen

Neben Kassel soll die documenta 14 mit Athen einen zweiten, gleichberechtigten Standort erhalten. Gleichwohl soll das Zentrum (auch in finanzieller Hinsicht) in Kassel bleiben. documenta-Leiter Adam Szymczyk meint, dass es an der Zeit sei, die Perspektive zu wechseln und aus der Krisensituation Athens auf die Welt und die Kunst zu blicken. Kassel solle mit Rücksicht auf Athen auf die Privilegien der Gastgeberrolle verzichten.

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