Die übersehene Avantgarde

Paul Sharits: Eine Retrospektive und Eric Baudelaire: FRMAWREOK
Schon Arnold Bode hatte 1955 das Medium Film in die documenta einbeziehen wollen. Doch die knapp drei Dutzend Streifen, die innerhalb von vier Wochen im documenta-Sommer 1955 gezeigt wurden, waren eher Kunstfilm-Werke oder Filme über Künstler. Zudem wurden sie weit weg vom Ausstellungsort zu später Stunde vorgeführt, so dass sie nicht im Zusammenhang mit der Ausstellung diskutiert wurden. Auch 1972 und 1977 wurden die Filmbeiträge der documenta, obwohl zum Teil in die Ausstellungen integriert, von der Kritik kaum wahrgenommen. Die wenigsten Besucher waren auf das Medium Film (und auch Video) vorbereitet. Dabei waren unter der Leitung von Harald Szeemann und Manfred Schneckenburger nicht mehr kunstsinnige Filme zu sehen, sondern experimentelle Werke, die das Medium und sein Material analysierten und in radikaler Weise bearbeiteten.
Die Avantgarde des experimentellen Films hatte in den documenta-Ausstellungen der 70er Jahre im Prinzip ein gutes Forum. Aber sie wurde weitgehend übersehen. Also darf es nicht überraschen, dass wir heute Werke als aufregend und neu empfinden, die mehr als 40 Jahre alt sind und die von einem Künstler stammen, der seit über 20 Jahren tot ist. Insofern ist die Retrospektive, die Susanne Pfeffer im Kasseler Fridericianum für Paul Sharits (1943-1993) eingerichtet hat, keine historisierende Rückschau, sondern ein notwendiger Beitrag zur Aufarbeitung der Moderne. Und so kommt es, dass wir ein Stück Geschichte als nachgetragene Gegenwart begreifen – auch wenn an Stelle der digitalen Technik der 16-mm-Film den Ton abgibt.
Der Amerikaner Paul Sharits kam von der Malerei her und gab die Beschäftigung mit der Malerei nie auf. Ja, um 1980 herum, als in Westeuropa die neue wilde Malerei von sich reden machte, schuf Sharits großformatige Gemälde, die ihre Nachbarschaft zum dekorativen und mit dem Kitsch liebäugelnden Pattern Painting nicht leugnen konnte.
Sharits war vielseitig. So sieht man in der Ausstellung strenge serielle Zeichnungen, die einerseits eine Verbindung zu den filmischen Arbeiten herstellen und die zum anderen die Gestalt von Notationen gewinnen. Dann wieder spürte er offenbar eine unbändige Lust an handfesten, erotisch aufgeladenen Bildern, die ihre Nähe zur schlechten Malerei kultivierten. Diese zweite Bildgruppe ist allerdings in der Ausstellung nur zu erahnen. Denn in Kassel wird die wilde Malerei von Sharits nur gestreift. Dort geht es vor allem um den 16-mm-Film, um Farbsystematik und um die Rückwirkung auf die Zeichnung und Malerei.
Eine der zentralen Arbeiten ist programmatisch gleich in der Erdgeschoss-Rotunde zu sehen. Da hängen – jeweils zwischen zwei Glasscheiben – drei Bilder, die sich aus farbigen Filmstreifen mit der typischen Perforation des 16-mm-Films zusammensetzen. Sharits hat mit der Komposition dieser Bilder, die er „Frozen Film Frame“ nannte, die Spielregeln des Films außer Kraft gesetzt. Denn der Film, in dem Einzelbilder verschmelzen, um Bewegungsabläufe darstellen zu können, büßt genau diese Möglichkeit dadurch ein, dass der Film in Streifen geschnitten und in ein Tableau verwandelt wurden. Die Einzelbilder und Sequenzen wirken wie eingefroren. Die Kraft zur Bewegung ist ihnen genommen. Dafür haben die Betrachter die Möglichkeit, alle Bilder des Films simultan zu überblicken und damit den Film in seinen Grundbausteinen studieren zu können.
Der aus lauter Einzelbildern bestehende Film löst sich in dieser Konstellation auf, wird zum streng komponierten Bilderbogen und verschwindet in der Abfolge der Bilder. Auf einmal sehen wir ein Teil der abgefilmten Wirklichkeit, wie wir ihn sonst nie betrachten könnten. Die Perforation als Wesensmarke wird dabei zur Orientierungslinie.
Die Serie der „Frozen Film Frames“, die sich in anderen Räumen fortsetzt, bildet eine Brücke zwischen dem experimentellen Spiel mit den Materialien des Films und der Suche nach Ordnungssystemen in der Zeichnung und Malerei. Die auseinander geschnittenen Filmstreifen, die dicht an dicht zwischen den Glasplatten hängen, haben sich von der Bewegung verabschiedet und laden zum Studium der Farbfolgen ein. So umfassend war unser Blick auf einen Film noch nie und dennoch waren wir noch nie so weit vom Filmerlebnis entfernt.
Eine Ahnung von dem, was wir unter normalen Umständen möglicherweise gesehen hätten, erhalten wir in dem Raum mit der Installation „Dream Displacement“, in der vier Projektoren auf einer Wand ein Panoramabild entstehen lassen, das sich in stetiger Bewegung befindet und pausenlos die Farbnuancen variiert. Spannend daran ist, dass die sich überschneidenden Bilder gleichzeitig in gegensätzliche Richtungen bewegen. Also kommen wir hier dem Medium auch dann nicht näher, wenn die Grundprinzipien des Films wieder einigermaßen gelten.
Paul Sharits ging es um die Frage der Wahrnehmung. Hatte er zuvor Experimente mit der vergrößerten Körnung des Filmstreifens gemacht, schuf er dann auch Filme, in denen zwar Worte, Porträts, Epileptiker oder ein Liebespaar aufgenommen wurden, die ihre Verbindlichkeit, Härte und Realitätsnähe aber dadurch verloren, dass Sharits zwischen die Wort- und Personenaufnahmen farbige Leerbilder schnitt. Folglich entziehen sich die Sequenzen dem Zugriff. Der Betrachter meint, auf einem schwankenden Boden zu stehen.
Zuweilen wirken diese Filme, die in sehr gut platzierten Installationen zu sehen sind und Schwerpunkte bilden, wie ein Gegenentwurf zu den Farbuntersuchungen der Filmstreifen, aus denen Sharits serielle Studien entwickelte. Mehr und mehr wandte er sich Kompositionen aus waagerechten Lineaturen zu, verdichtete die Farbstreifen in der Weise, dass man glaubt, Entwürfe für Teppiche vor sich zu haben. Endlich wurde sein malerischer Trieb um 1980 so stark, dass er begann, mit dicken Farbstreifen aus der Tube plastische bis reliefartige Bilder zu gestalten. Wahrscheinlich würden diese Bilder allein heute kaum noch gezeigt werden, ließe sich von ihnen nicht eine klare Linie zu den Kompositionen aus Filmstreifen zurückführen.
In der Paul Sharits gewidmeten Retrospektive geht es um die Frage, was eigentlich von dem Medium Film bleibt, wenn seine Mittel regelwidrig eingesetzt werden. Der Film als erzählerisches Mittel geht verloren, doch dafür wird ein ganz neuer Reichtum entdeckt. Doch es gibt keine Verlässlichkeit mehr. Die Wirklichkeit entzieht sich Abbildung, gerade weil die Filmsprache auf ihre Ursprünge zurückgeführt wird. Genau zu dieser Erkenntnis gelangt auch der Filmemacher Eric Baudelaire (Jahrgang 1973), dessen Projekt „FRMAWREOK“ auf den vier Ebenen Zwehrenturms (kuratiert von Nina Tabassomi) vorgestellt wird.
Baudelaire erforschte alte Mythen, studierte sozialwissenschaftliche Untersuchungen, filmte Stadtlandschaften, ließ Personen vor der Kamera erzählen, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen, nämlich der Wahrheit über das Leben eines Menschen, der durch seine Umwelt zum Serienmörder wurde. Baudelaire setzte alle bildnerischen Mittel in Bewegung: Die Wände seiner vier Räume tapezierte er mit Tabellen zur Terrorismus-Forschung, darauf klebte er Texte und hängte Bilder, von denen einige so schwarz in schwarz gestaltet wurden, dass sie nur einem bestimmten Winkel gelesen werden konnten. Aber je mehr Material Baudelaire anhäufte, desto klarer wurde, dass er keinen festen Boden unter die Füße bekommt. Seine Forschungsreise auf den Spuren der japanischen Rote Armee Fraktion wird zur Odyssee, in der er auch um die richtigen filmischen Mittel ringt. Es scheint so, als würde sich zwischen den Texten und Bildern, sowie zwischen den verschiedenen Sprachen, die in den Filmen gesprochen werden, die Wahrheit über die Wirklichkeit verlieren.
Eine lineare Erzählung gibt es nicht und die eine Wahrheit schon gar nicht. Eric Baudelaire hat für die Betrachter zahlreiche Möglichkeiten geschaffen, um ihn bei seiner Suche zu begleiten. Das anfangs torsohafte Material verdichtet sich zu einem vielschichtigen Erzählmuster. Am Ende ist die Frage nach der Erzählweise wichtiger als der Ausgang der komplexen Geschichte. Insofern stellt sich eine große Nähe zu Paul Sharits ein.

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