Residenzstadt ohne Residenz

documenta trifft Alternativkultur

Vorbemerkung: Im Zentrum der Betrachtungen stehen die documenta und die bildende Kunst in Kassel, da sich durch die von Arnold Bode organisierte Ausstellung die Stadt und ihren Stellenwert total geändert hat. Seitenblicke auf die städtische und staatliche Kultur . Im Sinne Bodes könnte man die Architektur einbeziehen. Sonderfall documenta urbana. Nicht berücksichtigt freie Theatergruppen, Staatstheater und reiche Musiklandschaft.
I. Zwischen globalem Stolz und Minderwertigkeitsgefühl

1) Die Entscheidung von Adam Szymczyk, der Kasseler documenta 2017 in Athen einen zweiten Standort zu geben, sorgte in Teilen der Bürgerschaft für Unruhe und Zukunftsängste. Diese Verunsicherung war einer der Gründe dafür, dass Prof. Schroeder zu dieser Ringvorlesung einlud.
Besorgte Fragen: Verliert Kassel seine Weltmarke? Wandert die documenta ab? Argumente der Planung: Athen ist gleichberechtigt, aber erhält nur ein Zehntel des Gesamtetats (30 Millionen Euro). Und von den 10 Millionen öffentlicher Mittel fließen nur 300.000 Euro nach Athen.
Expansion der documenta: Philadelphia (1976 geplant). 100 Tage – 100 Gäste (1997), Plattformen (2002), Redaktionskonferenzen (2007) und Kabul (2012).
Trends: Guggenheim New York, Venedig, Bilbao
Art Basel – auch in Miami (2002) und Hongkong (2013)
2) Minderwertigkeitsgefühle und Urängste: Kassel mittlere Großstadt. Jahrzehnte im Schatten der DDR-Grenze, schrumpfende Industrie, Abseitslage im Verkehr.
3) Zwar große Museumslandschaft , aber kein Kunstzentrum. Wie kann sich Kassel gegenüber München, Köln und Berlin behaupten? Ist der Vergleich nicht abmaßend?
Wieso überhaupt documenta-Stadt (seit 1999)?
4) Arnold Bode – Ausnahmefigur – Maler – Gestalter – Organisator.
Ausstellungen 1922, 1927 und 1929 in der Orangerie.
19 der 58 deutschen Künstler, die an der documenta 1955 beteiligt waren, hatten Bode und Dersch 1929 ausgesucht. Und 28 der 58 Künstler waren in den 20er Jahren in Kassel vorgestellt worden. Künstlergruppen Die Fünf, Kasseler Sezession, Die Sieben. Orangerie als Kunsthalle, 1922 wiederhergestellt.
5) Ab 1946 Planung einer internationalen Ausstellung
1947 an Teo Otto (Schweiz): …“Schweiz eine Landesgruppe… Amerika hat zugesagt, die Vorbereitungen laufen gut an. Ebenso will Frankreich“
6) 60 Jahre documenta. Gibt es 2055 noch eine documenta? Diskussion in Dubai
7) documenta mehr als eine Kunstausstellung. Bode 1955 – Kunst-Architektur – andere Künste. Mittlerweile Erweiterung: Bildwelten – Performance . Gespräche – globale Plattformen – Kulturausstellung (2012) –weitere Globalisierung.
II. documenta und Alternativkultur
1) 1968 Protest der politisch-kritischen Künstler und Kunststudenten. Sprengung der Pressekonferenz und Eröffnung
2) Widerspruch: documenta verstand sich als antimuseale Kunsteinrichtung, wurde 1968 aber als Teil des Establishments und des Marktes begriffen.
3) Die Ausstellung öffnete sich 1972. Einerseits Alltagsbilder und politische Propaganda, andererseits Erweiterung des Kunstbegriffes. Beuys‘ Büro für direkte Demokratie. Fünf Jahre später Gespräche unter der Honigpumpe – Schaffung der Basis für die FIU, die in Düsseldorf und Kassel real existierte. Alternativkultur als Produkt der documenta, die stets hohe Maßstäbe hatte, aber nie elitär sein wollte.
4) Zu Beginn der 70er Jahre verabschiedete sich die documenta endgültig aus der Hochkultur: Hans-Peter Feldmann benutzte 1977 alltägliche Sehnsuchtsfotos als Material zur Reflexion des Mediums Fotografie. Funktionales Design und künstlerische Gestaltung verbanden sich. Das Künstlerpaar Ayreen Anastas & René Gabri (AND AND AND)leisteten 2012 handfeste Beiträge zu einer alternativen Gartenkultur. Das Alternative ist Teil aktueller Kunstprojekte.
III. Alternativkultur: kein Gegensatz Stadt – documenta.
1) Kassel war eine der Pionierstädte für alternative soziokulturelle Zentren. Schlachthof beispielhaft – auch für Integrationsprojekte – mit immer größerer Nähe zur Uni.
2) Boden für alternative Projekte und ökologische Pionierarbeit gut vorbereitet – große anthroposophische Gemeinde – FIU – neue Wirtschaftswerte – Lehmbau. Ökologische Landwirtschaft in Witzenhausen
3) Alternative Kulturinitiativen in Verbindung mit GhK/Uni:: Caricatura – Filmladen (Bali, Gloria) – Offenes Wohnzimmer (Schwendter 1939-2013)
IV. Von der Residenzstadt zur Kulturstadt
1) Kunstsammlungen der hessischen Landgrafen seit dem 16. Jahrhundert. Antikensammlung unter Landgraf Karl (um 1700) und Schwerpunktmäßig und Friedrich II. in der 2. Hälfte des 18. Jahrhundert. Wilhelm VIII. erwarb um 1750 Schlüsselwerke der Gemäldegalerie Alte Meister (van Dyke, Rembrandt, Rubens)
2) Vor allem der von der Aufklärung geprägte Friedrich II. wollte das Studium der Antike fördern und die Objekte (Korkmodelle antiker Bauten) als Vorbilder für die klassizistische Architektur nutzen – so für das Museum Fridericianum (1779), erbaut von Simon Louis dy Ry. Erstes für die Öffentlichkeit gebautes Museum auf dem europäischen Kontinent.
3) Fridericianum für Kassels Kulturgeschichte eine Schlüsselrolle: Museum und Landesbibliothek Jacob und Wilhelm Grimm als Bibliothekare – Grundlage für das Deutsche Wörterbuch – heute Weltweit Symbol für die documenta.
4) Widerspruch: aufgeklärter Fürst, der dem Collegium Carolinum einen universitären Rang gab ( Georg Forster), Fridericianum, Friedrichsgymnasium und andererseits Soldatenhandel.
V. Fernwirkungen der Landgrafenzeit
1) Die ursprünglichen landgräflichen Sammlungen sind Landesbesitz – Bilder, Skulpturen und Objekte – auch die Museumsgebäude. Gemäldegalerie Alte Meister, Antikensammlung, Graphische Sammlung (Schloss Wilhelmshöhe)
Volkskunde, Kunsthandwerk und Plastik, Vor-und Frühgeschichte, Deutsches Tapetenmuseum (zuletzt Landesmuseum und Torwache)
Astronomisch- Physikalisches Kabinett (Orangerie)
Militär- und Jagdgeschichte (Schloss Friedrichstein, Bad Wildungen)
Kunst seit 1800 (Neue Galerie, staatliche und städtische Sammlungen)
Daneben drei städtische Museen (Naturkundemuseum, GrimmWelt, Stadtmuseum) und ein selbständiges Kulturinstitut, das Museum für Sepulkralkultur. Im Aufbau Technikmuseum
Früher waren der Bergpark und die Karlsaue in der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten. Heute alles unter dem Dach der Museumslandschaft Hessen Kassel. Sammlungen Gebäude und Parks in Landesregie – Distanz und fremd bestimmt. Das Staatstheater und die documenta GmbH werden von der Stadt und dem Land gemeinsam getragen.
2) Immer wieder Nutzungsstreit – insbesondere ums Fridericianum. Das Gebäude gehört der Museumslandschaft, die documenta GmbH betreibt ist. Anspruch der Museumslandschaft, gelegentlich Ausstellungen zu zeigen. Erst 1985 Streit zugunsten der documenta und der Kunsthalle beendet. Arnold Bode hatte das Fridericianum für die documenta in Beschlag nehmen können, weil in den 50er Jahren noch keine konkreten Nutzungspläne vorlagen. Andererseits: Bode wäre mit der documenta auch nach Wilhelmshöhe gegangen.
3) Kunstakademie – Kunsthochschule: 1777 aus dem Collegium Carolinum heraus gegründet, 1931 geschlossen, 1947 als Werkakademie wieder gegründet. Der offizielle Brief zur Planung der documenta 1955 wurde mit dem Briefkopf der Werkakademie versandt.
4) Die Verbindung Werkakademie (Heute Kunsthochschule) – documenta war auf die Person Bodes beschränkt. Karl Oskar Blase als Hochschullehrer stand eher für Vermittlung und Gestaltung. 1987 brach die Verbindung ab. Immerhin wurden bei Berufungen von Künstler-Professoren seit den 90er bevorzugt documenta-Teilnehmer berücksichtigt. Erst seit eineinhalb Jahren documenta-Stiftungsprofessur. Der Impuls von Kunsthallendirektor René Block, die weltweiten Biennalen nach Kassel einzuladen und hier möglicherweise ein Sekretariat einzurichten, wurde nicht weiterverfolgt.
5) Gründung der GhK 1971 war erst einmal in der Stadt nicht spürbar: In der Ingenieurschule an der Wilhelmshöher Allee und in Witzenhausen sowie in der Kunsthochschule ging der Betrieb weiter, und die neuen Fachrichtungen im AVZ machten sich in der Innenstadt kaum bemerkbar. Universitären Geist spürte man am ehesten im Vorderen Westen, wo Studenten- und Professoren-WGs zum Fortbestand der Gründer- und Jugendstilzeit-Häuser beitrugen, wo der Filmladen (1981) und das Offene Wohnzimmer zu Treffpunkten wurden. Betreiber des Filmladens und der Caricatura aus der Hochschule hervorgegangen. Allerdings leiden die Kulturdebatten in Kassel darunter, dass viele ProfessorInnen nicht in Kassel leben.
VI. Perspektiven
1) Als nächstes Ziel sollte die Hundertjahrfeier der documenta angepeilt werden. Allerdings lassen sich keine inhaltlichen Vorgaben geben. Die documenta-Leitung braucht die absolute Freiheit bei der Ausgestaltung. Lediglich ließe sich verabreden, welche Gebäude in jedem Fall und welche eventuell zur Verfügung stehen.
2) Wahrscheinlich müssen wir uns darauf einstellen, dass die documenta für Kassel, aber auch darüber hinaus gedacht wird.
3) Wenn Land und Stadt am 15. 7. den Vertrag unterzeichnen, dass das documenta Archiv unter das Dach der documenta GmbH kommt, wird endlich ein Geburtsfehler wettgemacht. Doch jetzt muss beraten und beschlossen werden, wie das documenta Archiv konzeptionell, personell und räumlich ausgebaut wird. Publikumsfreundlicher einrichten.
4) Das documenta Institut als Ziel zur Verknüpfung von Archiv-Aufarbeitung und Forschung. Dazu gehört Verstetigung der documenta-Professur.
5) Tagungen, Kongresse, öffentliche Veranstaltungen und Ausstellungen.
Große Ausstellungen leistet die Kunsthalle. Ausstellungen im Archiv/Institut sollen zur documenta hinführen.
6) Ausbau der Neuen Galerie zum Museum der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts – mit Schwerpunkt documenta

Ringvorlesung Uni: Kassel 4.0 Stadt der Transformationen, 19. 5. 2015

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